Buchrezension: Vom "Papierterrorismus" zum mutmaßlichen Hochverrat
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Warum glaubt man, das deutsche Kaiserreich bestehe fort und wir alle würden von einer "BRD-GmbH" traktiert? Reichsbürgerinnen und Reichsbürger sind rätselhaft und gefährlich. Eine Jura-Professorin und ein Jura-Professor versuchen, sie in einem Buch zu erklären. Eine Lese-Empfehlung von Sebastian Felz.

Am Montag vergangener Woche hat vor dem OLG Stuttgart der Prozess gegen neun Angeklagte des "militärischen Arms" einer mutmaßlich groß angelegten Verschwörung begonnen, genauer: im Hochsicherheits-Gerichtstrakt am Stammheimer Gefängnis. Den Angeklagten wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) vorgeworfen. Sie sollen außerdem ein hochverräterisches Unternehmen vorbereitet haben (§ 83 StGB). Gegen den mutmaßlichen Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß und die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann wird ab dem 21. Mai vor dem OLG Frankfurt a. M. verhandelt. Weitere acht Angeklagte der mutmaßlichen Vereinigung müssen sich ab dem 18. Juni vor dem OLG München verantworten. 

Die Angeklagten sollen unter anderem geplant haben, bewaffnet in das Berliner Reichstagsgebäude einzudringen, um dort Abgeordnete des Bundestages festzunehmen und so den Systemumsturz herbeizuführen. Dazu sollen sie auch "Feindeslisten" mit Funktionsträgerinnen und -trägern aus Politik und Verwaltung erstellt und eine politische Neugestaltung Deutschlands geplant haben. 

Die mutmaßlichen Verschwörerinnen und Verschwörer eint eine Ideologie, welche die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat anerkennen will und stattdessen an den Fortbestand des Deutschen Kaiserreichs von 1871 glaubt. Menschen, die solchen Vorstellungen anhängen, werden im Oberbegriff als Reichsbürgerinnen und Reichsbürger bezeichnet. Wurden diese früher noch häufig als Querulantinnen und Querulanten belächelt, hat sich dieses Bild in den vergangenen Jahren gewandelt. Der Mord an einem Polizisten in Georgensmünd 2016 zeigte die Gefährlichkeit ihrer Ideologie. Die heterogene Szene soll aus 23.000 Personen bestehen, doch wer und was steckt hinter dieser Bewegung? Die Jura-Professorin und der Jura-Professor Sophia und Christoph Schönberger geben in einem Buch Antworten.

Das wichtigste Ideologem: Der Glaube an die Fortexistenz des Deutschen Reiches

Christoph und Sophie Schönberger,  die in Köln bzw. Düsseldorf jeweils Öffentliches Recht lehren, nähern sich dem Thema in drei Schritten an: Im ersten Kapitel geht es um die "Reichsfantasie" der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger, im zweiten Kapitel "Prinzen, Popstars, Polizisten" um Einzelbeispiele aus der Szene sowie im abschließenden Kapitel um die Frage, wie Staat und Recht auf die Herausforderung der fundamentalen Negation der rechtlichen und politischen Fundamente der Bundesrepublik Deutschland reagieren können.

Eines der wichtigsten Ideologeme der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger ist die These vom Fortbestand des Deutschen Reiches, die ihre Ursprünge in der Rechtslage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg hat. Schönberger und Schönberger zeichnen die Debatten der bundesdeutschen Staatsrechtslehre prägnant nach. 

Die deutsche Rechtsauffassung ging in den unmittelbaren Nachkriegsjahren davon aus, dass zwar eine Kriegsniederlage Deutschlands gegeben sei, aber keine Annexion des Staatsgebiets durch die Alliierten staatgefunden habe. Es handele sich um eine "occupatio bellica" mit der Konsequenz, dass die oberste Staatgewalt treuhänderisch für die Deutschen durch die vier Besatzungsmächte ausgeübt werde. Die Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition unter Brandt und Scheel wollte die tatsächlichen politischen Verhältnisse der deutschen Teilung und des Verlustes der "deutschen Ostgebiete" durch Verträge mit der DDR, Polen und der UdSSR Anfang der 1970er-Jahre zunächst einmal anerkennen. Das BVerfG urteilte im Grundlagenvertragsurteil über die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages mit der DDR. Eine de-facto-Anerkennung war nur möglich, indem man gleichzeitig das Ziel der deutschen Wiedervereinigung aufrechterhielt. Das BVerfG stellte klar, dass der Vertrag kein Teilungsvertrag sei. Alle Verfassungsorgane seien verpflichtet, auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit hinzuwirken. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR komme für die Bundesrepublik nicht in Betracht. Die innerdeutsche Grenze sei eine staatsrechtliche Grenze wie zwischen zwei Bundesländern. Bürger der DDR könnten die (west-)deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Diese Rechtsauffassung sollte durch die These vom Fortbestand des Deutschen Reiches untermauert werden.

Die Bundesrepublik und die DDR seien Teile des fortexistierenden Deutschen Reiches. Die Bundesrepublik sei mit dem Deutschen Reich räumlich teilidentisch und rechtlich identisch, wobei das Deutsche Reich aber mangels Organen nicht handlungsfähig sei, so urteilten die Richter in Karlsruhe. Die Passage des fortexistierenden und rechtsfähigen "Deutschen Reiches" ohne Handlungsfähigkeit ist in verkürzter Zitierweise der "Verfassungstext" der Bewegung der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger. Nach Schönberger/Schönberger sind die Ausführungen des BVerfG nur "schwer nachvollziehbar" und eher ein "politisch-emotionales Bekenntnis zur nationalen Einheit", denn eine "rechtstechnische Konstruktion". Auf diese Fortbestandslehre setzen die Reichsbürgerinnen und Reichsbürger in sehr selektiver Lesart des Richterspruches auf Karlsruhe auf.

Vom "Reichsbahner" zum Reichsbürger

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass der erste Reichsbürger, den Schönberger und Schönberger identifizieren, einen speziellen Bezug zum "Deutschen Reich" und seinen Nachfolgeorganisationen hatte.

Wolfgang Ebel gehörte als Reichsbahnobersekretär zu einer speziellen Beschäftigtengruppe im geteilten Berlin während des Kalten Krieges, nämlich zu den Reichsbahnangestellten, die als DDR-Beschäftigte in ganz Berlin den S-Bahn-Verkehr durchführten. Sie standen in einem Dienstverhältnis zur DDR und unterlagen deren Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerecht sowie der DDR-Gerichtsbarkeit. Trotzdem erkannte West-Berlin das Ganze nicht als DDR-Verwaltung an, sondern ging davon aus, dass die Machthaberinnen und Machthaber in Ost-Berlin eine Reichsbehörde für die Sieger-Mächte verwalteten. 1984 wurde die S-Bahn in West-Berlin dann Teil der Berliner Verkehrsbetriebe. Vier Jahre zuvor jedoch war es zum Streik der "Reichsbahner" gekommen, die gegen ihre schlechte Gesundheitsversorgung protestierten. 200 Beschäftigte entließ die DDR. Sie hofften nun 1984 ebenfalls – wie ihre im aktiven Dienst stehenden Kollegen – von der BVG übernommen zu werden, was jedoch nicht geschah. 

Nun begann Wolfgang Ebel seinen Kampf um Wiedereinstellung. Er klagte vor den Berliner Verwaltungsgericht mit der Argumentation, dass er immer noch Beschäftigter der Deutschen Reichsbahn sei. Gleichzeitig ernannte er sich in Schreiben an die deutsche und alliierte Verwaltung zum "Generalbevollmächtigten der Deutschen Reichsbahn in Berlin (West)" oder gleich zum "Reichsverkehrsminister". Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ließ die Frage der Fortexistenz des Deutschen Reiches dahinstehen, da Ebel keine Urkunde als Beamter überreicht worden sei. Er scheiterte also an einem Stück Papier. 

Daraufhin begann sein "Papierterrorismus". Er schrieb massenhaft Briefe an Behörden mit seinen kruden Rechtsansichten, die bei fehlender Reaktion nach 21 Tagen als genehmigt gelten sollten. Ebel erfand abstruse Amtsbezeichnungen. Wenn diese Phantasietitel in achtloser Übernahme in behördlichen Antwortschreiben als Namenzusatz verwendet wurden, argumentierte er beim nächsten Scheiben, dass diese amtlich bestätigt seien. Er stellte Ausweispapiere des Deutschen Reiches aus, gab Lehrgänge für Reichsbürgerinnen und Reichsbürger und vertrat diese als "Bürger des 2. Reiches" gegen die Steuerverwaltung der Bundesrepublik. Ebels juristische und politische Phantasiephrasen hallen in den digitalen Echokammern von YouTube bis heute nach.

Wer sind die Reichsbürgerinnen und Reichsbürger?

Auch wenn die Szene der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger sehr heterogen ist, so können Schönberger und Schönberger doch einen "Extremismus von Männern in der zweiten Lebenshälfte" mit einer gewissen Affinität zu Waffen ausmachen. Ob die Bewegung eine radikale Antwort auf negative Erfahrungen und Brüche im Leben der Szenezugehörigen darstellt, ist bisher noch nicht erforscht. Ihre Ideologie ist im Einzelnen diffus und fluid, wenn auch immer eine sehr starke Tendenz besteht, die Bundesrepublik Deutschland und ihre Organe abzulehnen. Ihre häufigste Waffe ist der "Papierterrorismus", den Schönberger und Schönberger als "Jura-Dadaismus" beschreiben, in denen weitschweifende staatsrechtliche Auslassungen neben selbst erfundenen AGB und weiteren zivil-, gesellschafts- und handelsrechtlichen Ausführungen zu finden sind, die in massenhaften und mitunter sehr langen Schreiben in überformaler Behördenterminologie dargeboten werden. 

Da nur eine GmbH "Personal" hat, spielt die Entledigung der Personalausweise in der Szene häufig eine wichtige Rolle. Gefragt sind dagegen "Staatsangehörigkeitsausweise", mit denen eigentlich die deutsche Staatsangehörigkeit bescheinigt wird. Reichsbürgerinnen und Reichsbürger verbinden damit eine Bescheinigung nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. In der Szene werden aber auch gerne "Personenausweise" (statt "Personal"-Ausweise der angeblichen existierenden BRD GmbH) oder "Lebendurkunden" von eigenen Phantasiestaaten für gutes Geld verkauft. Allgegenwärtig ist auch das Bemühen, Steuern und Abgaben nicht an die angeblich nicht existente oder nicht legitimierte Bundesrepublik Deutschland entrichten zu müssen.

Der "imaginäre Kern" des Rechts

Die Reichsbürgerinnen und Reichsbürger fordern mit ihrer Parallelerzählung von "ihrem" Recht die eigentliche Rechtsordnung heraus. Sie stellen uns die Frage: Was ist der Geltungsgrund des Rechts? Es gebe, so analysieren es Schönberger und Schönberger, einen "imaginären Kern" des Rechts. An die Geltung des Grundgesetzes, des BGB oder der StVO werde geglaubt. Jede(r) kann die Rechtsgeltung aber zu spüren bekommen. Nämlich dann, wenn diese Geltung im Ernstfall durch den Staat gewaltsam durchgesetzt wird. Allerdings betonen Schönberger und Schönberger, dass es einer "Geltungsordnung" auf Dauer nicht gut bekomme, wenn sie verstärkt zwangsweise durchgesetzt werde. Was also tun gegen diese "Ohnmacht des Rechts"?

Es könne keine Antwort sein, die Reichsbürgerinnen und Reichsbürger zu pathologisieren, sie ins Lächerliche zu ziehen oder sie in Gänze dem Rechtsextremismus zuzuordnen. Hier seien Differenzierung und genaue Analyse angezeigt. Der liberale Verfassungsstaat, so Schönberger und Schönberger weiter, könne den Glauben an seine Legimitation nicht erzwingen. Spezifisch auf die Szene zugeschnittene Aussteigerprogramme seien ebenso wichtig wie ihnen durch glaubwürdige Politik, eine vernünftige Begründung demokratischer Herrschaft und erfahrbare demokratische Teilhabe zu begegnen. Schönberger und Schönberger geben einen prägnanten und vorurteilsfreien Überblick über die rechtlichen Hintergründe, die ideologische Konstruktionen und die rechtlichen sowie politischen Herausforderungen durch die Szene der Reichsbürgerinnen und Reichsbürger. Wer einen weitsichtigen, sachlichen und lösungsorientierten Überblick über die "Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung" bekommen möchte, sollte dieses Buch lesen.

Christoph Schönberger / Sophie Schönberger, Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung. München 2023, C.H.Beck Paperback, 189 S., Klappenbroschur, ISBN 978-3-406-80750-3, 18 €.

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Mitglied des Vorstandes des "Forum Justizgeschichte".

Dr. Sebastian Felz, 7. Mai 2024.