Krankenkasse muss teure Auslandsbehandlung nicht bezahlen
Frau_Rollstuhl_adobe_CR_Dan Race
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Eine querschnittsgelähmte Frau kann die Ausgaben von über 100.000 Euro für ihre Teilnahme an einem "Project Walk"-Training in den USA nicht von ihrer Krankenkasse zurückverlangen. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts entsprach diese Rehabilitationsmaßnahme nicht dem bisherigen Stand der Wissenschaft. Auch habe sich die Versicherte vorzeitig auf diese Behandlung festgelegt.

Sturz vom Pferd

Seit einem Reitunfall im Jahr 2006 als 15-Jährige war die Klägerin unterhalb des vierten Halswirbelkörpers querschnittsgelähmt (inkomplette Tetraparese). Im Jahr 2013 begann sie dann eine Behandlung in dem amerikanischen Trainingszentrum "Project Walk". Im folgenden Jahr beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Übernahme der Therapiekosten von März 2014 bis Februar 2015 in Höhe von 106.845 Euro für Behandlungen, Wohnungsmiete, Betreuung, Flüge und Mietwagen, Miete eines behindertengerechten Betts sowie Fahrdienste. Bis auf monatlich 800 Euro lehnte die DAK eine Erstattung aber ab: In Deutschland stünden mit 26 Querschnittszentren genügend adäquate Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zudem habe die Frau mit der Therapie in den USA schon vor der Stellung des Antrags angefangen, sodass die Krankenkasse keine Möglichkeit gehabt habe, sie im Vorfeld zu beraten und etwaige Alternativen aufzuzeigen.

Unkonventionelle Behandlungsmethode

Auch das Landessozialgericht Bayern sah kein Versorgungsdefizit bei physiotherapeutischen Angeboten. Dem schloss sich das BSG nun in der Revision an. So seien die Voraussetzungen einer Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a SGB V) nicht erfüllt, denn die Frau sei schon vor Ablauf der Entscheidungsfrist auf die Selbstbeschaffung der beantragten Leistung "vorfestgelegt" gewesen. Zudem habe die Behandlung – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – nicht dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft entsprochen und sei überdies nicht von einem Arzt durchgeführt oder verantwortet worden.

"Grundrechtsorientierte Auslegung" nicht geboten

Auch eine Grundsatzfrage entschieden die Kasseler Richter bei dieser Gelegenheit – nämlich ob eine "grundrechtsorientierte Auslegung" des SGB V auch dann einen Leistungsanspruch verschafft, wenn eine Körperfunktion zwar bereits ausgefallen ist, durch die fragliche Behandlung aber wieder hergestellt oder der bestehende Zustand gebessert werden soll. Doch der Krankenversicherungssenat befand, die Klägerin leide "nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung". Ihre unvollständige Querschnittslähmung sei damit auch wertungsmäßig nicht vergleichbar; dies erfordere eine "notstandsähnliche Extremsituation", wie sie auch für eine nahe Lebensgefahr typisch sei. Kennzeichnend dafür ist aus Sicht des BSG neben der Schwere der Erkrankung ein erheblicher Zeitdruck für einen bestehenden akuten Behandlungsbedarf. Hier aber sei die Lähmung nach dem Sturz vom Pferd bereits acht Jahre vor Beginn der streitigen Therapie eingetreten: Dass eine weitere erhebliche Verschlimmerung drohte oder für die Therapie lediglich ein enges Zeitfenster bestand, sei nicht ersichtlich.

BSG, Urteil vom 16.08.2021 - B 1 KR 29/20 R

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 18. August 2021.