Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen müssen durchgängig verlängert werden. Doch was tun, wenn die Sprechstundenhilfe eine langfristig Erkrankte wegen eines vollen Wartezimmers nicht zum Doktor vorlässt? So war es im Fall einer früheren Angestellten (Jahrgang 1966), die im September 2017 an der Schulter operiert worden war. Seither bezog sie ununterbrochen Krankengeld, auch nach Ende ihres Arbeitsverhältnisses im April 2018. Als am 17.6.2018 wieder eine Krankschreibung auslief, suchte sie am Tag darauf ihren Hausarzt auf, erhielt jedoch so kurzfristig keinen Termin: Die Helferin teilte ihr in deutlichen Worten mit, das Wartezimmer sei voll, sie könne nicht zum Doktor vorgelassen werden und müsse zwei Tage später wiederkommen. Dann könne die Bescheinigung zurückdatiert werden.
Schon die Sozialgerichte in den unteren beiden Instanzen fanden, die Frau hätte den persönlichen Zugang ins Behandlungszimmer nicht "erzwingen" können. Der "gelbe Schein" vom 20.6.2018 reichte der Krankenkasse jedoch nicht, und sie zog in die Revision: Eine Arbeitsunfähigkeit müsse lückenlos bescheinigt werden. Ohne rechtzeitig vereinbarten Termin habe die Frau erstmals am letztmöglichen Tag die Arztpraxis aufgesucht; sie habe nicht damit rechnen können, kurzfristig am gleichen Tag vorstellig werden zu können. Somit sei auch ihre Mitgliedschaft beim Versicherungsträger nunmehr weggefallen.
"Alles Zumutbare tun"
Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Bewilligung von Krankengeld nötigen Arbeitsunfähigkeits-Feststellung habe "an sich" die wegen des Bezugs von Krankengeld aufrechterhaltene Pflichtmitgliedschaft (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V) beendet, schreiben die obersten Sozialrichter in ihrem Bericht von der Verhandlung. Grundsätzlich hätten Versicherte "im Sinne einer Obliegenheit" dafür zu sorgen, dass der Arzt die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig feststellt. Doch habe das Bundessozialgericht in seiner Rechtsprechung enge Ausnahmen anerkannt, bei denen Betroffene so zu behandeln seien, als hätten sie von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig ein Attest erhalten.
"Einem 'rechtzeitig' erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit steht es danach gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden beziehungsweise -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (...) zu erhalten" – sofern es zu jenem Zusammenkommen aus Gründen, die dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zuzurechnen seien, erst verspätet (aber nach Wegfall dieser Gründe) gekommen sei. "Ob dem so ist, erfordert eine wertende Betrachtung der Risiko- und Verantwortungsbereiche des Versicherten, des Arztes und der Krankenkasse." In diese, so das BSG, flössen verfassungsrechtliche Vorgaben mit ein.
Oberste Richter weiten Ausnahmen aus
Nach diesen Maßstäben werde der Anspruch auf weiteres Krankengeld auch dann gewahrt, wenn der Versicherte "ohne zuvor vereinbarten Termin am ersten Tag nach einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit die Praxis des behandelnden Arztes zu üblicher Öffnungszeit persönlich aufsucht". Ohne Vorliegen besonderer Umstände dürfe dieser grundsätzlich darauf vertrauen, eine Folgefeststellung seines behandelnden Vertragsarztes wegen derselben Krankheit auch dann zu bekommen, wenn er dessen Praxis ohne zuvor vereinbarten Termin "am letzten noch anspruchserhaltenden Tag zu üblicher Öffnungszeit persönlich aufsucht". Die Richter nehmen dies erklärtermaßen zum Anlass, ihre bisherige Linie "fortzuentwickeln". Denn angesichts der Schwere des Nachteils, der in solchen Fällen im dauerhaften Verlust des Krankengeldanspruchs liege, gebiete dies der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: "Die Anforderungen hieran sind aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu überspannen."
Damit war die Lücke in den ärztlichen Feststellungen dem Urteil zufolge unschädlich, weil sie dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zuzurechnen sei. Dass es erst verspätet zum Treffen mit dem Mediziner gekommen ist, sei maßgeblich nicht der Klägerin zuzurechnen, sondern diesem und der Krankenkasse. Denn das von dem Arzt angeleitete Praxispersonal habe ihr trotz Schilderung ihres Anliegens wegen hohen Patientenaufkommens erst einen späteren Termin gegeben. Die Mitteilung des BSG schließt mit dem Vorwurf: "Die dahinter stehende (naheliegende) Fehlvorstellung, dass rückwirkende Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen für Versicherte nicht leistungsschädlich seien, haben Krankenkassen mit zu verantworten, weil sie als maßgebliche Mitakteure im Gemeinsamen Bundesausschuss an dessen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie beteiligt sind, die eine begrenzte rückwirkende ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung zulässt."