BSG: Kein Anspruch auf Arbeit in Deutschland zu europäischen Sozialversicherungstarifen

Unternehmen aus der Europäischen Union haben grundsätzlich keinen Anspruch auf den Abschluss von Ausnahmevereinbarungen, durch welche die sozialrechtlichen Bestimmungen am Sitz des Unternehmens dann auch für dessen Beschäftigte gelten, die über Jahre hinweg in Deutschland tätig sind. Dies hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 16.08.2017 entschieden. Die Ablehnung einer Vereinbarung sei allerdings gerichtlich überprüfbar (Az.: B 12 KR 19/16 R).

Sachverhalt

Das klagende polnische Unternehmen setzte unter anderem in den Jahren 2005/2006 Arbeitnehmer jahrelang in Deutschland ein. Bei der zuständigen polnischen Stelle (ZUS) beantragte es mit dem Ziel der Geltung polnischen Rechts eine rückwirkende Ausnahmevereinbarung zwischen der ZUS und der beklagten Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland (DVKA).

Wettbewerbsvorteil gegenüber im Zielstaat ansässigen Unternehmen

Das BSG hat die Klage gegen die Ablehnung der Vereinbarung durch die DVKA jetzt abgewiesen. Zwar müsse die Ablehnung einer Ausnahmevereinbarung wegen des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes gerichtlich überprüfbar sein. Ein überragendes Arbeitnehmerinteresse, das die Verurteilung der DVKA zum Abschluss der begehrten Vereinbarung möglicherweise rechtfertigen könnte, habe aber nicht vorgelegen. Auch habe die der Vermeidung von Briefkastenfirmen dienende Forderung nach einem Schwerpunkt (mehr als 25%) der Tätigkeit eines Unternehmens an dessen Sitz in einem anderen Staat der Europäischen Union einer ständigen Verwaltungspraxis entsprochen. Das Interesse, sich als ausländisches Unternehmen im Zielstaat (hier: Deutschland) durch die Fortgeltung ausländischen Rechts mittels niedrigerer Sozialabgaben einen Wettbewerbsvorteil gegenüber im Zielstaat ansässigen und dem dortigen System der sozialen Sicherheit unterstellten Unternehmen zu verschaffen, rechtfertige nicht die Annahme eines Anspruchs auf eine Ausnahmevereinbarung. Gleiches gelte hinsichtlich der Bearbeitungsdauer und der zum Gegenstand der Preiskalkulation gemachten Hoffnung des klagenden Unternehmens, eine Vereinbarung würde zustande kommen.

Neuregelung seit Mai 2010

Das Gericht wies darauf hin, dass die Systeme der sozialen Sicherheit im vorliegenden Fall noch durch die VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geregelt wurde. An Stelle dieser Verordnung ist mit Wirkung vom 01.05.2010 die VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit getreten.

Beschäftigungsort maßgeblich

Danach gelten nach den Ausführungen des Gerichts folgende Grundsätze: Arbeitnehmer würden hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats der Europäischen Union unterliegen, und zwar im Regelfall desjenigen Mitgliedstaats, in dem sie beschäftigt sind. Dies gelte – soweit in der Verordnung nicht etwas anderes bestimmt ist – auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Sitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

Besondere Regelungen bei Entsendung

Sondervorschriften würden für Fälle der Entsendung von Arbeitnehmern ins EU-Ausland gelten: Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber zur Arbeitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat der EU entsandt werden, würden weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats (Sitz des Arbeitgebers) unterliegen, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate beziehungsweise seit 01.05.2010 24 Monate nicht übersteigt und er nicht einen anderen Arbeitnehmer ablöst, für den die Entsendungszeit abgelaufen ist. Unabhängig vom zeitlich eng begrenzten Sozialtarifexport bei Entsendung könnten aber zwei oder mehr Mitgliedstaaten oder die zuständigen Behörden dieser Staaten im Interesse bestimmter Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen Ausnahmen von den grundlegenden europarechtlichen Vorschriften vereinbaren.

BSG, Urteil vom 16.08.2017 - B 12 KR 19/16 R

Redaktion beck-aktuell, 16. August 2017.

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