Gilt in allen Gerichtszweigen
Neulich hatte es seinen zehnten Geburtstag: das "Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren". Vorausgegangen war ein Urteil des EGMR, das Deutschland zur Einführung eines wirksamen Rechtsbehelfs verpflichtet hatte. Den gibt es seither in 22 Gesetzen – in den großen Verfahrensordnungen wie der ZPO, aber auch etwa im BVerfGG, dem Patentgesetz und der Wehrbeschwerdeordnung (und mit dem Umweg über das GVG auch in der StPO). Gestern hat sich nun das Bundessozialgericht mit zwei solchen Fälle befasst.Auf die Folter gespannt
So klagte vor den obersten Sozialrichtern ein Mann auf eine Entschädigung von 1.600 Euro nebst Zinsen. Er hatte Anfang September 2012 vor dem SG Kiel seine Berufsgenossenschaft auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Anspruch genommen, was die Richter im Februar 2014 abwiesen. Für die alsbald eingelegte Berufung beim LSG baten seine Bevollmächtigten mehrfach um eine Fristverlängerung, bis sie im Oktober die Begründung einreichten; der Unfallversicherer nahm umgehend dazu Stellung. Sodann herrschte beim Senat trotz einer Nachfrage Stillstand der Rechtspflege. Nach einer Verzögerungsrüge im April 2016 setzte er für den Herbst eine mündliche Verhandlung an, im November wies er schließlich die Forderung ab. Das seien insgesamt 33 Monate an Untätigkeit gewesen, findet der Anspruchsteller – und damit deutlich zu lang. In einem Verfahren des LSG Berlin-Brandenburg ging es in Kassel außerdem darum, ob eine längere Krankheit des Vorsitzenden Richters mitzählt.
Ausgleich durch schnelle Instanz
Geklärt hat das BSG nun zwei Fragen. Im ersten Fall entschied es gegen den Kläger: Die im Ausgangsverfahren vom SG nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit müsse bei der Prüfung der Angemessenheit der Dauer des Verfahrens beim LSG mit berücksichtigt werden, schreiben sie in ihrem Sitzungsbericht. Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch ein Gericht in bestimmten Verfahrensabschnitten könnten durch eine zügige Bearbeitung in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden. Dass der Gesetzgeber eine solche "instanzübergreifende Verrechnung" wünsche, ergebe sich insbesondere aus dem Wortlaut des § 198 GVG, wonach die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens anhand von dessen Gesamtdauer und nicht der Dauer einer einzelnen Instanz zu beurteilen ist. Das muss das Kieler Entschädigungsgericht hier noch genauer prüfen. Die Kasseler Bundesrichter gaben ihm dafür als "Segelanweisung" mit auf den Weg: "Dabei wird es auch zu beachten haben, dass die Monate zwischen der Ladung zum Termin und der Durchführung der mündlichen Verhandlung grundsätzlich zu den von der Vorbereitungs- und Bedenkzeit umfassten Zeiten gehören."
Krankheit entschuldigt den Staat nicht
Zugunsten des Klägers, dessen Prozess vor dem SG Berlin begonnen hatte, fiel hingegen das zweite Urteil aus. Das BSG stellte klar: Zwar sei eine Verfahrensdauer von regelmäßig bis zu zwölf Monaten je Instanz als angemessen anzusehen – selbst wenn sie nicht durch konkrete Schritte der Verfahrensförderung begründet und gerechtfertigt werden könne. Aber auch die Erkrankung eines Kammervorsitzenden falle in den Verantwortungsbereich des Gerichts und damit des Staates. Denn der schulde den Rechtsuchenden die Bereitstellung einer ausreichenden personellen und sachlichen Ausstattung der Justiz: "Dazu gehören auch wirksame personelle Vorkehrungen für Erkrankungen des richterlichen Personals und für andere übliche Ausfallzeiten." Erkranke ein Richter, sei dann eben der durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zur Vertretung bestimmte Richter für die Förderung des Verfahrens zuständig. Im Übrigen seien Ausfallzeiten von Richtern grundsätzlich mit der vom Senat angenommenen zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abgegolten. Etwas anderes könne allerdings gelten, wenn wegen der Erkrankung des zuständigen Richters beispielsweise ein bereits anberaumter Termin kurzfristig verschoben werden müsse. Der Spruch zahlt sich für den Kläger in barem Geld aus: Zusätzlich zu den von der Vorinstanz bereits zugesprochenen 1300 Euro bekommt er jetzt weitere 300 Euro Entschädigung.