Brexit-Streit um Nordirland: EU legt detailliertes Lösungspaket vor
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Die EU-Kommission hat im Ringen um den Sonderstatus der britischen Provinz Nordirland nach dem Brexit ein detailliertes Paket mit Lösungsvorschlägen vorgelegt. Rund 80% der bislang notwendigen Warenkontrollen könnten dadurch in bestimmten Bereichen wegfallen, sagte EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefcovic bei der Vorstellung der Pläne am 13.10.2021 in Brüssel. Derweil irritieren Stimmen aus Großbritannien zum Nordirland-Protokoll.

Vorschläge sehen Handelserleichterungen vor 

Man habe aufmerksam zugehört und nun mögliche Lösungen ausgearbeitet, um “spürbare Veränderung vor Ort zu erreichen“, betonte der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission. Auf die offenen Drohungen aus London, die als Nordirland-Protokoll bezeichnete Vereinbarung aus dem Brexit-Abkommen außer Kraft zu setzen sowie auf die heikle Forderung der Briten, die Rolle des Europäischen Gerichtshofs aus dem Abkommen zu streichen, ging Sefcovic kaum ein. Mit den Erleichterungen soll unter anderem die Versorgung mit Medikamenten in Nordirland sowie der Handel mit Lebensmitteln und vielen anderen Gütern erheblich vereinfacht werden. Für landestypische Spezialitäten wie Würste, deren Einfuhr in den Europäischen Binnenmarkt bislang verboten ist, sollen im Fall Nordirlands Ausnahmen gemacht werden.

Briten lehnen EuGH als Kontrollinstanz ab

Die britische Regierung teilte am Abend mit, man werde die Vorschläge “ernsthaft und konstruktiv“ prüfen. London mahnte jedoch auch an, es müsse “erhebliche Änderungen“ bei der Frage geben, wie die Einhaltung des Protokolls überwacht werde. Gemeint ist damit die von London kritisierte Rolle des Europäischen Gerichtshofs. Noch am Vorabend hatte der britische Brexit-Minister David Frost das Protokoll für gescheitert erklärt und Verhandlungen über eine neue Vereinbarung gefordert. Doch das ist für Brüssel keine Option: “Wenn man den Gerichtshof ausklammert, nimmt man Nordirland den Zugang zum Binnenmarkt“, sagte ein ranghoher EU-Beamter.

Nordirland-Protokoll soll harte Grenze vermeiden

Mit dem Nordirland-Protokoll gelang einst der Durchbruch bei den zähen Gesprächen über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs. Darin ist geregelt, dass Nordirland - anders als England, Schottland und Wales - weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion folgt und so eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland verhindert wird. Bis Ende der 90er Jahre kämpfen Anhänger eines vereinten Irlands und Befürworter der Union mit Großbritannien mit Waffengewalt gegeneinander. Die offene Grenze soll verhindern, dass der Konflikt wieder aufflammt. Damit aber nicht unkontrolliert Waren über die offene Grenze in die EU gelangen können, wurden Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs vereinbart. Das hat teils zu Handelsproblemen geführt, für die sich London und Brüssel gegenseitig verantwortlich machen. Den nordirischen Anhängern der Union mit Großbritannien ist der Sonderstatus ein Dorn im Auge, weil er die Provinz vom Rest des Vereinigten Königreichs entfernt.

EU-Kommissionsvize betont Bedeutung des Nordirlandabkommens

Sefcovic betonte bei der Vorstellung der EU-Vorschläge die Bedeutung für Frieden und die Stabilität in Nordirland. Er zeigte sich tief beeindruckt von Gesprächen mit Interessenvertretern in der Region. An die britische Regierung gerichtet sagte er: “Ich hoffe wirklich, dass wir dieselben Ziele von Frieden, Stabilität und Wohlstand auf der Insel Irland haben und ich hoffe, wir sind uns einig, dass Unternehmen und Menschen in Nordirland vom Zugang zu beiden Märkten enorm profitieren würden.“ Dass die EU-Kommission nun Menschen und Unternehmen in Nordirland so direkt umwirbt, könnte mit sinkendem Vertrauen in die Regierung in London zu tun haben.

Vertrauen gegenüber Londoner Regierung schwindet

Zweifel an deren Aufrichtigkeit säte der ehemalige Chefberater des britischen Premierministers Boris Johnson, Dominic Cummings, am 12.10.2021. Er habe nie vorgehabt, das Protokoll umzusetzen, gab Cummings zu. Der Plan sei gewesen, eine Einigung bei den Austrittsgesprächen mit Brüssel zu erzielen, um die Parlamentswahl 2019 zu gewinnen und dann “die Teile, die uns nicht gefallen“, loszuwerden, schrieb er auf Twitter. Auch nach Angaben eines Abgeordneten soll Johnson bereits vor Unterzeichnung des Nordirland-Protokolls deutlich gemacht haben, dass er sich nicht daran halten wolle. "Boris Johnson hat mir persönlich gesagt, dass er sich nach Zustimmung zu dem Protokoll dafür einsetzen werde, es zu ändern und sogar in Stücke zu reißen", sagte der Abgeordnete der nordirisch-protestantischen Partei DUP, Ian Paisley, der BBC.

EU-Botschafter: Ohne EuGH kein Binnenmarkt-Zugang für Nordirland

Irlands Vizeregierungschef Leo Varadkar warnte die britische Regierung davor, weltweit Vertrauen zu verspielen, sollte sich dies als wahr herausstellen. Die Vorschläge der EU-Kommission sehen auch vor, Gruppen, Behörden, Organisationen und andere Interessensträger aus Nordirland stärker in die Umsetzung des Protokolls einzubinden. Ein weiteres Angebot sieht vor, den Papieraufwand bei Zoll-Formalitäten unter Auflagen um die Hälfte zu reduzieren. In den kommenden Tagen sollen sich Sefcovic und sein britischer Kollege David Frost treffen. Konkrete Ergebnisse könnten aber bis Ende des Jahres auf sich warten lassen. Der EU-Botschafter in London hat Forderungen der britischen Regierung nach einer grundsätzlichen Neuverhandlung des im Brexit-Abkommen vereinbarten Nordirland-Protokolls zurückgewiesen. Die von der Regierung in London kritisierte Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Vereinbarung sei eine Grundvoraussetzung für den Zugang Nordirlands zum Europäischen Binnenmarkt, sagte João Vale de Almeida im BBC-Fernsehen am Mittwochabend. "Ohne Europäischen Gerichtshof gibt es keinen Binnenmarkt", so der Diplomat.

Redaktion beck-aktuell, 14. Oktober 2021 (dpa).