Brandenburg-Wahl: Mit verfassungswidrigen Überhangmandaten zur Vetoposition der AfD?
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Eine Sperrminorität für die AfD auch bei weniger als ein Drittel aller Zweitstimmen? Dieses Szenario könnte in Brandenburg Realität werden – und verfassungswidrig sein, erklärt Sebastian Roßner.

Bei der Landtagswahl in Brandenburg am Sonntag könnte es zu einem verfassungswidrigen Ergebnis kommen, obwohl dieses nach einem Landeswahlgesetz ermittelt wird, das im Kern seit langem unverändert ist.

Zugleich könnte das Wahlgesetz dafür sorgen, dass die AfD im Landtag mehr als ein Drittel der Sitze erringt, obwohl ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen so viele Sitze nicht zustünden. Sie bekäme damit eine Sperrminorität, mit der sie bestimmte wichtige Entscheidungen blockieren könnte, für die eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist. Dazu zählen – außer der Verfassungsänderung nach Art. 79 S. 2 Verfassung Brandenburg (Verf Bbg) – vor allem die Selbstauflösung des Landtages (Art. 62 Abs. 2 Verf Bbg), die Abwahl von Mitgliedern des Landtagspräsidiums (Art. 69 Abs. 2 S. 2 Verf Bbg) und die Wahl neuer Richter und Richterinnen am Landesverfassungsgericht.

Ein solches Wahlergebnis will der auf die Organisation von Kampagnen spezialisierte Verein Campact e.V. verhindern, indem er in den Wahlkreisen, in denen Kandidaten oder Kandidatinnen der AfD nach den Prognosen knapp vorne liegen, die Konkurrenz von der SPD unterstützt.

Landtagswahlrecht vergleichbar mit altem Bundeswahlrecht

Aber wie kann es zu einem solchen Szenario kommen? Des Pudels rechtlicher Kern ist die Deckelung der Größe des Landtags auf maximal 110 Abgeordnete. Falls eine größere Zahl an Überhangmandaten entsteht, können einige davon nicht ausgeglichen werden. Damit würden die Mehrheitsverhältnisse im Landtag gegenüber dem Proporz der Zweitstimmen verzerrt.

Dabei entspricht das brandenburgische Landtagswahlrecht in seinen Grundzügen dem Wahlrecht zum Bundestag vor der jüngsten Reform: Die Hälfte der gesetzlichen Regelgröße von 88 Landtagssitzen wird mit einfacher Mehrheit in 44 Wahlkreisen vergeben, die andere Hälfte über die mit der Zweitstimme gewählten Listen derjenigen Parteien, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erlangen oder einen Wahlkreis gewonnen haben, §§ 2 und 3 Brandenburgisches Landeswahlgesetz (LWG Bbg).

Für die politischen Mehrheitsverhältnisse im Landtag soll es jedoch nur auf den Proporz der Zweitstimmen ankommen. Insofern handelt es sich grundsätzlich um ein Verhältniswahlrecht, was auch in Art. 22 Abs. 3 S. 3 Verf Bbg festgeschrieben ist, bei dem jedoch die Wähler über die Erststimme beeinflussen können, wie sich der Landtag personell zusammensetzt.

Je mehr Überhangmandate, desto weniger Ausgleich

Das wird erreicht, indem die in den Wahlkreisen von einer Partei gewonnenen Sitze auf die Sitze angerechnet werden, die ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen zustehen. Erhält etwa eine Partei 25% der Zweitstimmen, stehen ihr 22 der 88 Sitze im Landtag zu. Gewinnt diese Partei zudem elf Wahlkreise, verdrängen die Wahlkreissieger elf Kandidaten von der Liste; es bleibt aber bei insgesamt 22 Sitzen im Landtag (§ 3Abs. 6 LWG Bbg). Gewinnt die Partei jedoch 25 Wahlkreise, also drei Direktmandate mehr, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen zusteht, entstehen sogenannte Überhangmandate, die der Partei verbleiben (§ 3 Abs. 6 LWG Bbg). Der bereits dadurch auf 91 Sitze erweiterte Landtag wird in einem nächsten Schritt durch Ausgleichsmandate nochmals vergrößert, die den übrigen Parteien zugeteilt werden (§ 3 Abs. 6f. LWG Bbg). Denn der Landtag soll trotz der Überhangmandate nach dem Proporz der Zweitstimmen zusammengesetzt sein und so der Grundsatz des Verhältniswahlrechts gewahrt bleiben.

Allerdings wird dieser Verhältnisausgleich nur so lange durchgeführt, bis insgesamt 110 Landtagssitze erreicht sind (§ 3 Abs. 9 S. 1 LWG Bbg). Das begrenzt die Möglichkeit eines Ausgleichs umso stärker, je mehr Überhangmandate entstehen.

Gewinnt im obigen Beispiel die Partei insgesamt 37 Direkt- und damit elf Überhangmandate, wäre bereits damit der Landtag auf 88+11 = 99 Sitze vergrößert. Es blieben nur noch elf Sitze bis zur gedeckelten Maximalzahl von 110 Sitzen für den Verhältnisausgleich. Die Partei würde mit 37 von 110 Abgeordneten 33,6 % der Landtagssitze, also etwas mehr als ein Drittel besetzen, obwohl ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen nur ein Viertel der Sitze zustünde.

Landtag könnte die Wahl für ungültig erklären

So könnten die Mehrheitsverhältnisse bei einem entsprechenden Wahlergebnis für die eine oder andere Partei gegenüber der in Brandenburg verfassungsrechtlich festgeschriebenen Orientierung am Verhältniswahlrecht erheblich verzerrt werden. Schnell würde sich die Frage aufdrängen, ob der Landtag verfassungsgemäß zusammengesetzt sei.

Das wäre im Wahlprüfungsverfahren nach Art. 63 Verf Bbg zu klären, das jeder Wahlberechtigte einleiten kann und in dem zunächst der Landtag das Wort hat, gegen dessen Entscheidung dann die Beschwerde an das Verfassungsgericht Brandenburg zulässig ist. Stellte der Landtag fest, dass bei der Ermittlung des Wahlergebnisses Vorschriften der Verf Bbg verletzt worden sind, müsste er die Landtagswahl für ungültig erklären (§§ 4 Abs. 1 Nr. 3; 9 Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz Brandenburg, WPrüfG Bbg). Maßstab und Rechtsfolge gelten auch für eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts im Beschwerdeverfahren. Zu einer solchen würde es wahrscheinlich kommen, denn die Verfassung des Landes wäre ja durch ein fehlerhaftes Wahlgesetz verletzt, das der Landtag im Wahlprüfungsverfahren nicht ändern kann. Eine denkbare, aber nicht unproblematische Alternative wäre, dass der Landtag selbst das verfassungswidrige Wahlgesetz ändert, auf dessen Grundlage er gewählt wurde.

In der Wahlprüfung käme es materiell darauf an, ob der begrenzte Verhältnisausgleich, der durch die Deckelung auf maximal 110 Landtagssitze bewirkt wird, gegen Art. 22 Abs. 3 S. 3 Verf Bbg verstößt. Dort heißt es: „Die Abgeordneten werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ „Grundsätze“ der Verhältniswahl bedeutet wohl, dass die Zusammensetzung des Landtages von dem genauen Proporz der Zweitstimmen abweichen darf, jedenfalls soweit dies durch die Verfolgung anderer Ziele gerechtfertigt ist. Solche Ziele könnten hier die Verwirklichung der verfassungsrechtlich verankerten Persönlichkeitswahl und die vom Wahlgesetzgeber gewollte Begrenzung der Maximalgröße des Landtages sein.

BVerfG im Jahr 2012: Bis zu 15 Überhangsmandate im Bundestag möglich

Die entscheidende Frage ist aber, wie weit die Grundsätze der Verhältniswahl eingeschränkt werden dürfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch unausgeglichene Überhangmandate die Gleichheit der Wahl betroffen ist. Indem nämlich die Überhangmandate die politischen Gewichte im Landtag anders verteilen als dies die Zweitstimmenanteile der Parteien vorsehen, gewinnt ein Teil der Erststimmen Einfluss nicht nur auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments, sondern auch auf den Proporz der politischen Richtungen im Parlament. Während grundsätzlich jeder Wähler nur einmal, nämlich mit der Zweitstimme, die proportionale Zusammensetzung des Landtages beeinflussen kann, nehmen die Wähler, die mit ihrer Erststimme zu Überhangmandaten beitragen, doppelt Einfluss.

Das BVerfG sprach in einem Urteil vom 25. Juli 2012 (2 BvF 3/11; 2 BvR 2670/11; 2 BvE 9/11) zum damaligen Bundestagswahlrecht in einer parallelen Grundkonstellation von einer Ungleichheit des Erfolgswertes der Stimmen, die rechtfertigungsbedürftig sei. Das BVerfG kam dann zu dem nicht unumstrittenen Ergebnis, die Überhangmandate im Bundestag seien bis zu einer Anzahl von 15 Sitzen rechtfertigungsfähig, weitere Überhangmandate müssten hingegen ausgeglichen werden.

Die Begründung: Es sei ein Anliegen des (Bundes-)Gesetzgebers gewesen, dass das Parlament etwa hälftig aus direkt und aus über die Liste gewählten Abgeordneten bestehe. Dies sei aber nicht mehr gewährleistet, wenn eine schwer zu vorherzusagende Zahl von Ausgleichsmandaten hinzukomme, die über die Listen der Parteien zu besetzen wären.

Maximal drei unausgeglichene Überhangmandate in Brandenburg

Orientierte man sich in Brandenburg an dieser Rechtsprechung, wäre einem Antrag auf Wahlprüfung wohl stattzugeben. 15 Sitze entsprechen ungefähr der Hälfte der Mandate, die im Bundestag normalerweise für die Bildung einer eigenen Fraktion nötig sind.

Im sehr viel kleineren Landtag von Brandenburg reichen dafür nach § 1 Abs. 1 S. 1 Fraktionsgesetz bereits fünf Abgeordnete aus. Nach der höchstrichterlichen Faustformel aus Karlsruhe könnten also zwei oder aufgerundet bis zu drei unausgeglichene Überhangmandate hinzunehmen sein, alle weiteren müssten ausgeglichen werden.

In unserem obigen Beispiel müsste der Landtag dementsprechend, je nach der Zahl der Zweitstimmen, die auf Parteien entfallen, die nicht im Landtag vertreten sind, auf über 130 Sitze anwachsen, um acht der elf gewonnenen Überhangmandate auszugleichen, vgl. § 3 Abs. 8 LWG Bbg.

Mindestens politisch angreifbare Legitimation

Wo genau auch die schwer zu bestimmende verfassungsrechtliche Grenze für unausgeglichene Überhangmandate liegen mag: Die einfachste Lösung für das verfassungsrechtliche Problem wäre es, die Maximalzahl der Landtagssitze in § 3 Abs. 8 und 9 LWG Bbg deutlich zu erhöhen.

Sinnvollerweise hätte der alte Landtag dies bereits vor der Wahl tun sollen. Der neue Landtag hätte, wenn er das LWG Bbg insoweit für verfassungswidrig hielte, nur eine, wenn auch nicht juristisch, so doch politisch angreifbare Legitimation. Auch das LVerfG Bbg könnte die Ungültigerklärung der Wahl im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde wohl mit der Anordnung verbinden, dass für die nötige Wiederholungswahl keine oder nur eine sehr großzügige Deckelung der maximalen Landtagsgröße gelten soll.

Aber auch wenn dieses Mal die Wahl nicht zu einer verfassungswidrigen Zusammensetzung des Landtages führen sollte, sollte das LWG Bbg in der neuen Legislatur geändert werden, um den skizzierten Krisen vorzubeugen.

Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Beratungsschwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.

Dr. Sebastian Roßner, 20. September 2024.