BRAK: Neue Regierung soll Rechtsstaat durch Entkriminalisierung stärken

Vor dem Hintergrund einer überlasteten Strafjustiz macht die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) für die neue Legislaturperiode Vorschläge, die auf eine Entkriminalisierung des Rechtsstaats hinauslaufen. Der Strafrechtsausschuss der BRAK hält es für an der Zeit, das Strafrecht auf seine Kernaufgaben zu beschränken. Im Zentrum müsse der Schutz konkreter Rechtsgüter stehen. Stattdessen bestehe die Tendenz, das Strafrecht zu einem Gefährdungs- und teilweise sogar zu einem Erziehungsrecht umzugestalten.

Keine Flankierung zivilrechtlicher Ansprüche

Mit Blick hierauf bedürfe es einer kritischen Bestandsaufnahme dahingehend, ob und inwieweit die Regulierung primär zivilrechtlicher Ansprüche zwingend durch das Strafrecht flankiert werden muss. Als Beispiel nennt der Strafrechtsausschuss das in § 265a StGB unter Strafe gestellte "Erschleichen von Leistungen". Dieses sollte seiner Ansicht nach zugunsten eines neuen Bußgeldtatbestands gestrichen werden.

Ausdehnung des Anwendungsbereichs der tätigen Reue

Weiter fordert die BRAK eine Ausweitung der Möglichkeiten einer Befriedung vermögensrechtlicher Streitigkeiten mittels strafrechtlicher Instrumente. Gelingen könne dies namentlich durch die Ausdehnung (und Systematisierung) des Anwendungsbereichs der Tätigen Reue. Denkbar sei sowohl eine Ausdehnung auf einzelne Tatbestände im Besonderen Teil des StGB als auch eine grundsätzliche Weichenstellung im Allgemeinen Teil des StGB. Umgekehrt seien die bereits vorhandenen Tatbestände, die eine Straffreiheit bei Tätiger Reue zulassen, auf ihre Praktikabilität hin zu überprüfen. Denn diese besäßen oft keine große Praxisrelevanz, so die BRAK. Als Beispiel nennt sie die Unfallflucht. Die Möglichkeiten der Strafmilderung oder des Absehens von Strafe bei Tätiger Reue in § 142 Abs. 4 StGB seien zu reformieren. Bei Unfällen mit Sachschäden sei eine telefonische Meldung, etwa bei einer einzurichtenden neutralen Meldestelle, in Erwägung zu ziehen.

Allein moralisches Unrecht entkriminalisieren

Konsequenz des "ultima ratio"-Gedankens und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei ferner, dass das StGB keine Strafvorschriften enthalten dürfe, die ausschließlich oder im Kern moralisches Unrecht ohne Verletzung oder Gefährdung kriminalisieren, so die BRAK weiter. Sie nimmt Bezug auf das Inzestverbot in § 173 StGB. Auch andere Strafvorschriften, beispielsweise im neuen Sexualstrafrecht (etwa die § 184a StGB, soweit er sich auf tierpornographische Inhalte bezieht, aber auch die Norm über die Tötung auf Verlangen in § 216 StGB), bedürften der Überprüfung.

Unüberschaubares Nebenstrafrecht

Die Kritik der BRAK gilt auch dem Nebenstrafrecht. Die Vielzahl von Strafvorschriften außerhalb des StGB sei unüberschaubar. Vor allem seien große Teile des Wirtschaftsstrafrechts inzwischen blankettartig ausgestaltet. Bei der Formulierung solcher Blankettstrafnormen unterliefen dem Strafgesetzgeber zudem zunehmend Fehler, die Anlass gäben, an einer vorhersehbaren Sanktionsgesetzgebung im Nebenstrafrecht insgesamt zu zweifeln. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Strafvorschriften außerhalb des StGB beschreibe zudem kein kriminelles Unrecht, sondern erfasse Verhaltensweisen, die schlichte Ordnungsverstöße enthielten. Dies gelte nicht nur, aber in besonderem Maße für Straftatbestände, die im Zuge der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht geschaffen wurden. Beispielhaft wies die BRAK auf die strafbewehrten Verstöße gegen Kennzeichnungs- und Hinweispflichten in verschiedenen lebensmittel-rechtlichen Vorschriften hin.

Gebrauch von Cannabis durch Erwachsene legalisieren

Es erscheine danach geboten, die Strafvorschriften des Nebenstrafrechts einer umfassenden Überprüfung unter den Blickwinkeln der Strafwürdigkeit und des Strafbedürfnisses zu unterziehen und bislang mit Strafe bedrohte Verhaltensweisen, die diesen Kriterien nicht gerecht werden, aus dem Bereich des Strafbaren auszuscheiden, meint die BRAK. So bestehe zum Beispiel im Bereich des Aufenthaltsgesetzes Anlass zu einer Überprüfung der Strafwürdigkeit einzelner Verhaltensweisen. Gleiches gelte für Teile des Betäubungsmittelstrafrechts. Unter anderem plädiert die BRAK dafür, den Gebrauch von Cannabis und Cannabisprodukten durch Volljährige zu legalisieren. An den Jugendschutz seien hier dagegen strenge Maßstäbe anzulegen. Auch seien Handel und Umgang mit Cannabis strenger staatlicher Kontrolle und Überwachung zu unterwerfen.

Redaktion beck-aktuell, 27. September 2021.