Künftig Videoverhandlung per Gerichtsanordnung?
Der Referentenentwurf sieht insbesondere vor, dass Gerichte eine Videoverhandlung nicht mehr nur gestatten, sondern gegenüber den Verfahrensbeteiligten auch anordnen können. Dadurch soll im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung die Terminierung von mündlichen Verhandlungen erleichtert werden. Die Verfahrensbeteiligten sollen dann innerhalb einer von der oder dem Vorsitzenden zu bestimmenden Frist beantragen können, von dieser Anordnung ausgenommen zu werden. Umgekehrt soll bei übereinstimmenden Anträgen der Parteien auf Durchführung einer Videoverhandlung das Entscheidungsermessen des Gerichts dahingehend eingeschränkt werden, dass eine Videoverhandlung grundsätzlich angeordnet werden "soll". Eine ausnahmsweise ablehnende Entscheidung wäre vom Gericht zu begründen und anfechtbar. Weiterhin soll die Möglichkeit zur Durchführung einer vollvirtuellen Verhandlung geschaffen werden, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhält. Um auch in diesen Fällen die Öffentlichkeit zu gewährleisten, soll die Videoverhandlung zusätzlich in einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht übertragen werden.
Videobeweisaufnahme und sonstige Änderungen
Geändert werden sollen auch die Regelungen zur Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung. Demnach soll eine Videobeweisaufnahme künftig von Amts wegen angeordnet werden können. Die vorgeschlagene Neuregelung lässt zudem eine Inaugenscheinnahme im Wege der Videobeweisaufnahme zu. Die bisher für die Nutzung von Videokonferenztechnik nach den Gerichtskostengesetzen zu erhebende Auslagenpauschale soll entfallen. Des Weiteren soll auch die Abgabe von Anträgen und Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle per Bild- und Tonübertragung zugelassen werden. Außerdem soll die Abnahme der Vermögensauskunft durch den Gerichtsvollzieher künftig auch per Bild- und Tonübertragung möglich sein und schließlich sollen die Regelungen zur vorläufigen Protokollaufzeichnung erweitert werden.
BRAK gegen Anordnungsmöglichkeit von Amts wegen
In ihrer Stellungnahme begrüßt die BRAK die vermehrte Nutzung von Videokonferenztechnik insbesondere mit Blick auf eine Beschleunigung der Verfahren. Da über die reine Dauer der Verhandlung keine zeitliche Bindung für die Anreise bestehe, könnten Verlegungsanträge teilweise entbehrlich werden. Gleichzeitig müssten aber grundlegende Prozessgrundsätze zwingend unangetastet bleiben. Überragende Bedeutung komme insoweit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz zu. Mit Blick auf die Dispositionsfreiheit sollten grundsätzlich die Parteien die Entscheidungsfreiheit darüber haben, ob eine Verhandlung in Präsenz oder per Video durchgeführt wird. Insofern positioniert sich die BRAK gegen die vorgesehene Möglichkeit einer Anordnung der Videoverhandlung von Amts wegen. Hilfsweise müsse mindestens eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Anordnung der oder des Vorsitzenden geschaffen werden.
Vollvirtuelle Verhandlung stößt auf Bedenken
Auch die Möglichkeit einer vollvirtuellen Verhandlung - also der Abwesenheit der Richterinnen und Richter - stößt bei der BRAK auf Ablehnung. Bei einer Gerichtsverhandlung, bei der auch die Mitglieder des Spruchkörpers nicht vor Ort sein müssen und sich getrennt voneinander aufhalten können, sei fraglich, ob es sich noch um eine mündliche Verhandlung unmittelbar vor dem erkennenden Gericht handelt, in dem jederzeit das rechtliche Gehör gewährleistet ist. So könnten technische Störungen unbemerkt vorliegen, so dass schwere Verhandlungsfehler unbemerkt und damit ungerügt blieben. Fraglich sei auch, wie das Beratungsgeheimnis zwischen den Richterinnen und Richtern an ihren privaten Wohnorten gewahrt werden soll.
BRAK warnt vor Missbrauchsmöglichkeiten bei Videobeweisaufnahme
Des Weiteren spricht sich die BRAK gegen die Möglichkeit der Anordnung einer Videobeweisaufnahme von Amts wegen aus. Dies gelte erst recht, weil diese Entscheidung nach aktuellem Stand unanfechtbar wäre. Durch die Neuregelung werde das Recht der Partei unterlaufen, die physische Teilnahme eines Zeugen an der Verhandlung sicherzustellen. So könnte ein nicht präsenter Zeuge gegen den Willen zumindest einer der Parteien vernommen werden. Dies widerspreche dem Gedanken, dass es sich beim Zivilprozess um einen Parteienprozess handelt. Außerdem seien bei einer Anordnung von Amts wegen persönliche Eindrücke von Zeugen nicht möglich; ihre Beeinflussung durch nicht im Video sichtbare weitere Personen sei nicht erkennbar. Der Entwurf schweige außerdem dazu, wie er sicherstellen möchte, dass Manipulationen verhindert werden, etwa durch Dritte oder technische Vorrichtungen.
Videosystem soll "Breakout Room" für vertrauliche Mandantengespräche vorsehen
Schließlich fordert die BRAK eine technische und organisatorische Ausstattung der Gerichte als Grundlage für die Gesetzesänderungen. Der Entwurf stelle den zweiten Schritt vor dem ersten dar. Zunächst seien die technischen Voraussetzungen bei den Gerichten zu schaffen, um überhaupt verstärkt Videoverhandlungen durchführen zu können. Insofern spricht sich die BRAK für die Einführung eines bundesweit einheitlichen Videosystems aus. Dieses müsse insbesondere eine wirksame Einreichung und Präsentation von Unterlagen auch im Rahmen von Videoverhandlungen gewährleisten. Außerdem fordert die BRAK auch während der Videoverhandlung einen "geschützten Raum" (sogenannter Breakout Room) für einen vertraulichen Austausch zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Der Austausch über ein Chatfenster erfülle die notwendigen Anforderungen nicht. Des Weiteren spricht sich die BRAK für eine Erprobung der virtuellen mündlichen Verhandlung im zivilgerichtlichen Onlineverfahren und die Beachtung und Einhaltung des Datenschutzes aus.
Justiz "unter Digitalisierungsdruck"
Die ungewollte Feuerprobe während der Coronapandemie hat gezeigt, dass die deutsche Justiz in puncto Digitalisierung noch nachrüsten muss. Eckard Schindler, Direktor der IBM Deutschland für den Öffentlichen Sektor, betreut justizielle Digitalisierungsprojekte und hat eine Studie zum Thema Digitalisierungsdruck in der Justiz durchgeführt. Im Interview mit der NJW führt er Gründe dafür an, weshalb Deutschland bisher in Sachen digitale Justiz noch nicht weiter ist. So habe sich die Justiz etwas auf ihren Plan für den elektronischen Rechtsverkehr versteift und mit den Modernisierungsbestrebungen der Innenressorts im Grunde nichts zu tun haben wollen. Dadurch seien die vom Bund im Rahmen der Pandemie aufgesetzten Digitalisierungsprogramme praktisch an der Justiz vorbeigegangen. Zudem sei in den Ländern für IT in der Justiz auch immer zu wenig Geld eingeplant gewesen. Und schließlich gebe es vor allem große Steuerungsprobleme. Schindler empfiehlt der Justiz, eine Vielzahl kleinerer Digitalisierungsprojekte aufzusetzen, die in der Praxis einsetzbar sind und die zeigen, welche Vorteile Digitalisierung bietet.
Buschmann: Gerichtssaal darf keine Zeitmaschine in die 80er sein
Buschmann betonte jüngst auf einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins, dass die Digitalisierung der Rechtspflege auch wichtig sei, damit bei Bürgerinnen und Bürgern nicht die Akzeptanz schwinde. "Wenn die Menschen irgendwann den Eindruck haben, dass, wenn sie einen Gerichtssaal oder meinetwegen eine Anwaltskanzlei betreten, sie das Portal einer Zeitmaschine durchschritten haben, dass sie in den 80er Jahren oder in den frühen 90ern ankommen, dann werden Menschen, die heute in Dienstleistungsunternehmen oder in beliebigen Betrieben notwendigerweise digital arbeiten, die in ihrer Freizeit digitale Services nutzen, die in Minuten ihren Streamingdienst abonnieren oder ein Konto eröffnen, irgendwann den Respekt vor dem Rechtsstaat verlieren." Deshalb sei es sein Ziel, die Digitalisierung im Bereich der Rechtspflege nach vorne zu bringen, so Buschmann. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, habe das Bundesjustizministerium "innerhalb eines Jahres auf 100% digitale Aktenführung umgestellt".