Blicke zurück – Blicke nach vorn
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© BGH/Joe Miletzki

Ganz anders als geplant verlief die Feier von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft zum 70. Geburtstag: Statt mit weit über 1.000 internationalen Gästen in der Karlsruher Schwarzwaldhalle zusammenzukommen, beschränkte sich das Event auf eine Talkshow. Die richtete der SWR in kleinstem Rahmen in der Gerichtsbibliothek aus und übertrug sie live. Die einhellige Botschaft aller Repräsentanten und Diskutanten: Die beiden Institutionen haben Hervorragendes für den Rechtsstaat geleistet – doch dieser ist aktuell einigen Gefahren ausgesetzt.

 

Vor dem Brunnen...

Im Hintergrund der Fernseh- und Internetübertragung war das Großherzogliche Palais mit dem sprudelnden Brunnen davor zu sehen, das die obersten Straf- und Zivilrichter am 1.10.1950 bezogen haben – allerdings nur durch die Scheiben der Gerichtsbibliothek. Mit gebührendem Abstand saßen dort in der ersten Runde BGH-Präsidentin Bettina Limperg und Generalbundesanwalt Peter Frank, mit dem ARD-Rechtskorrespondenten Frank Bräutigam als Interviewer in der Mitte. Dann Grußbotschaften von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth via Videoaufzeichnung. Und schließlich eine Diskussionsrunde mit Teilnehmern aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, ergänzt durch kurze Wortbeiträge aus dem kleinen, geladenen Auditorium.

Personelle Kontinuitäten

"Wir wollen den Blick lenken auf die unmittelbare Nachkriegszeit", sagte Limperg zu den Bemühungen des BGH, seine nicht unbelastete Vergangenheit historisch aufzuarbeiten. Dort habe es personelle Kontinuitäten gegeben, für die der erste Präsident Herman Weinkauff ein sehr gutes Beispiel sei. Weinkauff ist wegen seiner vorherigen Richtertätigkeit in der NS-Zeit umstritten. "Es ist an der Zeit, dass wir uns diesen Fragen stellen." Chefankläger Frank bekräftigte, auch seine Behörde lasse derzeit ihre Anfangszeit untersuchen. "Welche institutionellen, sachlich-inhaltlichen, aber auch personellen Kontinuitäten gab es?" Vorläufer sei schließlich die Reichsanwaltschaft gewesen, die auch Anklagen am Volksgerichtshof erhob. Dort war Wolfgang Fränkel tätig, später erster Generalbundesanwalt nach Gründung der Bundesrepublik. Der habe eine "ganz dunkle Vergangenheit gehabt", so Frank. Er will klären, wieweit dies später noch die Rechtsprechung beeinflusst und Karrieren befördert habe – aber auch, ob und welche Brüche es sodann in der Entwicklung gab.

"Nicht die oberste Chefin"

Mit Blick auf die heutige Zeit bekundete die BGH-Präsidentin geradezu enthusiastisch, an ihrem Gericht spiele "das absolut pralle Leben". Es gebe schließlich keinen Bereich mehr, der nicht rechtlich geregelt sei. Allerdings müsse sie Bürgern immer wieder erklären, dass sie nicht die Chefin aller deutschen Richter sei und nicht mal derer an ihrem eigenen Gericht. "Die Rechtsprechung ist unabhängig." Generalbundesanwalt Frank betonte, seine Institution führe mittlerweile deutlich mehr Ermittlungen als früher gegen Rechtsextremisten und Rechtsterroristen. So habe sie nach dem Mord an dem Ex-Politiker Walter Lübcke und dem Attentat auf die damalige Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker die Verfahren an sich gezogen. An den Mord an einem seiner Vorgänger, Siegfried Buback, und den späteren Raketenwerferangriff auf das Gebäude werde er jeden Morgen durch die hohe Mauer erinnert, die seither darum gezogen wurde. Aber trotz solcher Risiken fühle man sich dem Auftrag verpflichtet, die freiheitliche Rechtsordnung zu schützen.

Grußbotschaften per Video

Bundespräsident Steinmeier – im Schloss Bellevue vor seinem Schreibtisch und der Nationalfahne stehend – erinnerte an Kinofilme wie "Rosen für den Staatsanwalt" aus der frühen Nachkriegszeit, die die Probleme personeller Kontinuitäten beleuchtet hätten. Seine Wünsche an die "liebe Frau Limperg" verknüpfte er mit dem Hinweis auf Sorgen etwa des Deutschen Richterbunds vor überlangen Verfahren und den Schwierigkeiten, qualifizierten Nachwuchs zu finden. Verfassungsgerichtspräsident Harbarth zeigte sich in einem Einspielfilm dankbar für das "historische Glück", in einer Epoche der Rechtsstaatlichkeit zu leben wie nie zuvor. Auch er erinnerte an den Buback-Mord und warnte vor dem "Ungeist", der auch heute Manchen zum Äußersten treibe. Doch am Ende sei der Rechtsstaat stärker als jeder Hass.

Rolle der Politik

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verwies auf die Erforschung der Frühzeit ihres eigenen Ministeriums durch das Rosenburg-Projekt. Den Vorwurf, Strafverschärfungen hätten keinen nachweisbaren Abschreckungseffekt, konterte sie vor allem mit dem Appell, Richtern den nötigen Spielraum zu lassen. Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer verwies auf ein Forschungsvorhaben des BVerfG in eigener Sache; so sei der frühere Verfassungsrichter Willi Geiger an "problematischen Entscheidungen" beteiligt gewesen, und auch zur Richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck seien "Dinge ans Licht gekommen". Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) distanzierte sich hingegen von seinen Studentenjahren beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW), wo er gegen Berufsverbote demonstriert hatte. Später sei er zum Lehrer ernannt worden und damit seither ein "staatlich geprüfter Verfassungsfreund". Für die Anwaltschaft am BGH erinnerte Brunhilde Ackermann, Präsidentin der dortigen Rechtsanwaltskammer, daran, dass dort erstmals im Jahr 1983 eine Frau zugelassen worden sei. Nun gebe es unter den 40 Mitgliedern dort sechs Kolleginnen: "Da ist noch Luft nach oben."

Prof. Dr. Joachim Jahn, Mitglied der NJW-Schriftleitung, 8. Oktober 2020.