Ein Bild, das nur das Gesicht verpixelt, den Blick aber umso stärker auf den Ausschnitt der Frau im Blazer lenkt - so macht die Bild-Zeitung sechs Tage nach dem Anschlag in Solingen ihren Artikel auf. "Asyl-Anwältin: Half sie dem Solingen-Terroristen, seiner Abschiebung zu entgehen?", lautet die Überschrift des Artikels, den man nur hinter der Bezahlschranke lesen kann.
Dass der mutmaßliche Attentäter genau gewusst habe, was er zu tun hat, um seine Abschiebung zu "umgehen", könnte an seiner Beraterin liegen, kann man dort lesen: einer Rechtsanwältin, die "auf Abschiebe-Verhinderung spezialisiert" sei. "Nach BILD-Informationen vermuten Behörden, dass sie al H. erklärte, wie er die Abschiebung abwenden und wann er wieder risikofrei mit staatlichen Stellen in Kontakt treten konnte". Was fragwürdig klinge, sei Alltag in Deutschland. "So wie Steuerberater versuchen, mithilfe von Schlupflöchern Steuern zu sparen, suchen Asylanwälte nach Lücken im Asylsystem."
Gute Bewertungen für ihre Arbeit
Im Internet werbe die Anwältin u.a. auf Arabisch um ihre Kunden, heißt es weiter – und sie "fällt auf mit positiven Rezensionen, die sie auf sozialen Netzwerken zu Werbezwecken teilt". In der Folge listet das Blatt Auszüge aus Bewertungen auf, ("Danke, danke", der "schönen (…) Rechtsanwältin"). "Auffällig" ist aus Sicht der Bild-Zeitung offenbar, dass der Anwältin in vielen Bewertungen dafür gedankt werde, das Dublin-Verfahren umgangen zu haben.
Unter der Zwischenüberschrift "Brisante Details machen Anwaltskollegen misstrauisch" moniert die Zeitung schließlich, dass auf ihrer Webseite nichts über ihre Vita zu lesen und die Zahl ihrer Instagram-Follower (laut Bild mehr als 11.000) außergewöhnlich hoch sei. Und mutmaßt, dass auch Fake-Bewertungen unter den Rezensionen sein könnten.
Ein angeblicher - namentlich nicht genannter – Anwalt habe schließlich gegenüber Bild "analysiert", dass die Rezensionen womöglich eingefordert worden seien. Der Webauftritt der Advokatin "locke potenzielle Mandanten mit dem unausgesprochenen Versprechen, sie könne das Dublin-Verfahren außer Kraft setzen, Abschiebungen in EU-Länder stoppen".
Auch Welt fragt, welche Ratschläge sie gab
Die Bild-Zeitung ist nicht das einzige Medium, das die damalige Anwältin des mutmaßlichen Attentäters zur Zielscheibe macht. Die Berichterstattung begann offenbar im rechten Portal Nius des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt.
Auch die wie die Bild zum Springer-Konzern gehörende Zeitung Die Welt berichtet von einer Kanzlei aus Dresden, die "im Netz vor allem von Migranten gefeiert" werde, und fragt, wie es diesen mithilfe der Anwältin gelungen sei, in Deutschland zu bleiben. "Weil zum Untertauchen geraten wurde? Welche Ratschläge gab die Juristin ihren Klienten?"
Jedenfalls habe sie jederzeit über den Asylstatus und das Verfahren ihres Mandanten Bescheid gewusst, weiß das Blatt zu vermelden, schließlich habe das VG Minden gegenüber Welt versichert, den Rechtsbeistand des mutmaßlichen Attentäters über das Verfahren in Kenntnis gesetzt zu haben. Die Anwältin hat keine der Anfragen der Springer-Medien beantwortet.
"Verpflichtet, meinen Mandant:innen zu ihrem Recht zu verhelfen"
Anwältinnen und Anwälte zeigen sich erschüttert ob des kaum verhohlenen Subtextes der Medien, die Anwältin trage eine Mitverantwortung am Terrorattentat in Solingen. Der Berliner Migrationsrechtler Martin Manzel sagte gegenüber beck-aktuell: "Der Kollegin wird ihre Arbeit vorgeworfen – sonst gar nichts. Der Artikel der Bild enthält nicht einen einzigen Aspekt, der ihr zum Vorwurf gemacht werden könnte." Die Rechte ihrer Mandantschaft zu schützen, als Organ der Rechtspflege, vor allem aber als einseitige Interessenvertreterin, sei ihr Auftrag, den sie offenbar erfüllt habe.
Auch Matthias Lehnert sieht sich "als Rechtsanwalt im Asylrecht verpflichtet, meinen Mandant:innen zu ihren Rechten zu verhelfen. Das umfasst, Rechtsbehelfe einzulegen, wenn behördliche Entscheidungen möglicherweise und aus meiner Sicht gegen das Recht verstoßen", erklärt der Leipziger* Migrationsrechtler gegenüber beck-aktuell. "Speziell im Asylrecht ist das mehr als erforderlich, denn das BAMF verstößt in einer Vielzahl von Fällen gegen Recht und Gesetz – wenn man sich etwa die jährlichen Asylstatistiken anschaut, wonach ein Großteil der BAMF-Entscheidungen erst von den Gerichten aufgehoben wird." Auf Nachfrage antwortet Lehnert, sich in seinem Umfeld normalerweise nicht politisch dafür rechtfertigen zu müssen, was er tue. Nur auf Familienfeiern gebe es "manchmal komische Kommentare". Rechtfertigen müsse er sich "nur meinen Mandant:innen gegenüber."
Auch für Christian Wolf, Jura-Professor an der Universität Hannover, ist dem Artikel der Bild-Zeitung "nichts zu entnehmen, was man der Rechtsanwältin vorwerfen kann, außer, dass sie ihren Job offensichtlich gut macht". Er bezeichnet den "Angriff der Bild-Zeitung auf die Rechtsanwältin" gegenüber beck-aktuell als einen Angriff auf alle Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen und auf den Rechtsstaat. "Wer eine Anwältin mit Bild - so wie die Bild Zeitung - an den Bild-Pranger stellt, gefährdet die betreffende Rechtsanwältin", so der Berufsrechtler. Wolf regt an, dass die zuständige Rechtsanwaltskammer prüfen sollte, ob man gegen den Kollegen, der für die Bild-Zeitung den Webauftritt der Anwältin "analysiert" habe, berufsrechtlich vorgehen müsse.
Ein gefährlicher Vorwurf
Die Anwaltsverbände meldeten sich noch am Donnerstag zu Wort. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisierte die "Angriffe" auf die Anwältin in verschiedenen Medien scharf und wies darauf hin, es sei Aufgabe der Anwaltschaft, die Rechte und Interessen ihrer Mandantschaft wahrzunehmen. "Einer Juristin zum Vorwurf zu machen, sie habe ihre Arbeit zu gut erledigt, ist absurd und gefährlich" und zeuge von einem situativ beliebigen Rechtsstaatsverständnis, so DAV-Präsidentin Edith Kindermann.
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) verurteilte die massive Kritik der Bild-Zeitung an der Anwältin ebenfalls "aufs Schärfste". Es sei der Kern unseres Rechtsstaats und das verbriefte Recht jedes Asylbewerbers, sich in seiner Rechtsangelegenheit anwaltlicher Hilfe zu bedienen. "Diese Aufgabe, welche die Kollegin als Organ der Rechtspflege pflichtgemäß wahrnimmt und wahrgenommen hat, zu einem Akt der Beteiligung hochzustilisieren, ist nicht nur hochgradig unethisch, sondern gleichermaßen falsch", so Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der BRAK. "Die Kollegin hat nicht mehr, aber auch nicht weniger getan, als ihre berufliche Pflicht zu erfüllen. Sie dafür zu kritisieren, halte ich nicht nur für fehlgeleitet, sondern für geradezu unmoralisch."
Migrationsrechtler Martin Manzel, der auch Mitglied im Geschäftsführenden Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des DAV ist, zeigte sich von der Berichterstattung der Bild-Zeitung und des Fehlverständnisses anwaltlicher Tätigkeit geradezu empört. "Wer im Migrationsrecht arbeitet, vor allem im Asylrecht, wer Schutzbedürftige vertritt, der verhindert Überstellungen im Rahmen des Dublin-Systems. Das ist unsere anwaltliche Aufgabe und unser verfassungsmäßiger Auftrag. Wir sollten aufpassen, dass wir die anwaltliche Tätigkeit im Migrationsrecht nicht unter Generalverdacht stellen – das wäre sonst der Beginn der Entrechtung von Menschen, die sonst niemanden haben, der für sie Partei ergreifen könnte".
*Anm. d. Red.: Ort korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 20.58 Uhr (pl)