BGH: Zuständigkeitsregelung des § 215 VVG ist auch auf Altverträge anwendbar

EGVVG Art. 1 I, 1 II; VVG §§ 5a, 215; BGB § 278

Der Regelungsbereich der Übergangsvorschrift in Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG erfasst nicht die Gerichtsstandsregelung des § 215 VVG. Das hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil entschieden. Bei Vorliegen der sachlichen Voraussetzungen sei § 215 Abs. 1 S. 1 VVG daher auch in zeitlicher Hinsicht anwendbar, obgleich der Vertragsschluss noch vor der Reform des Versicherungsvertragsrechts zum 01.01.2008 erfolgte. Greife Art. 1 Abs. 1 EGVVG nicht ein, verbleibe auch für eine Anwendung des Art. 1 Abs. 2 EGVVG kein Raum.

BGH, Urteil vom 08.03.2017 - IV ZR 435/15 (OLG Bamberg, LG Würzburg), BeckRS 2017, 105014

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 7/2017 vom 06.04.2017

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Sachverhalt

Im Jahr 2006 schloss der Kläger bei der Beklagten, einem Versicherer mit Sitz in Liechtenstein und Tochter eines österreichischen Versicherungskonzerns, eine «Lebensversicherung mit Vermögensverwaltung» gegen eine Einmalprämie von 20.000 EUR ab. Dem ging eine Beratung durch einen Untervermittler voraus, der dem Kläger das Versicherungsprodukt, das eine komplexe und risikobehaftete Anlagestrategie vorsah, mittels zwei Broschüren erläuterte. Der Kläger leistete die Prämie. Seine Anlage entwickelte sich jedoch negativ, bis zum nahezu vollständigen Verlust des eingesetzten Kapitals. Seine auf Prämienrückzahlung aus bürgerlich-rechtlicher Prospekthaftung sowie ungerechtfertigter Bereicherung gerichtete Klage erhob der Kläger bei dem Landgericht, in dessen Bezirk sich sein Wohnsitz befindet. Während des erstinstanzlichen Verfahrens stützte er die Klage auch auf einen Widerspruch nach § 5a VVG a.F. Das LG Würzburg wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit des Gerichts als unzulässig ab. Das OLG Bamberg hob das Urteil auf und verwies die Sache an das LG zurück.

Rechtliche Wertung

Die Revision der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg. Das Berufungsgericht habe zu Recht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gemäß § 215 Abs. 1 S. 1 VVG angenommen. Die Regelungen der EuGVVO 2001 oder des LugÜ 2007 seien nicht anwendbar, da Liechtenstein weder Mitgliedstaat noch dem LugÜ beigetreten ist. Etwas anderes ergebe sich auch nicht mit Blick auf die österreichische Konzernmutter.

§ 215 Abs. 1 S. 1 VVG gelte zudem für sämtliche vom Kläger geltend gemachten Ansprüche. Die Norm verlange zwar eine Klage «aus dem Versicherungsvertrag». Der Begriff sei aber weit auszulegen; er erfasse alle Ansprüche, bei denen das Bestehen, Nichtbestehen oder Nichtmehrbestehen eines Versicherungsverhältnisses auch nur die Rolle einer klagebegründenden Behauptung spielt, mithin insoweit auch Ansprüche aus Bereicherungsrecht und deliktischer Haftung. Entsprechendes gelte für die Prospekthaftung.

§ 215 Abs. 1 S. 1 VVG sei ferner in zeitlicher Hinsicht anwendbar, obgleich der Vertrag noch vor der VVG-Reform 2008 abgeschlossen wurde. Es sei umstritten, ob und inwieweit die Vorschrift von Art. 1 EGVVG erfasst wird. Der Senat folge indes der Auffassung, nach der § 215 VVG als Norm des Prozessrechts schon von Art. 1 Abs. 1 EGVVG nicht erfasst werde. Das ergebe die Auslegung der Norm. Zwar sei der Wortlaut nicht eindeutig, weil er einerseits die Anwendung des alten Rechts «auf Versicherungsverhältnisse» anordnet und andererseits auf das VVG insgesamt verweist, das auch prozessuale Normen enthält. Sinn und Zweck der Vorschrift sprächen aber für einen beschränkten Regelungsbereich. Mit der Norm habe ausweislich der Begründung des VVG-Reformgesetzgebers eine Umkehr des Grundsatzes erreicht werden sollen, dass neue vertragsrechtliche Regelungen nur für Verträge gelten, die nach dem Inkrafttreten geschlossen werden, und die bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Verträge Bestandsschutz genießen. Neue prozessuale Normen würden demgegenüber grundsätzlich ex nunc gelten.

Wäre Art. 1 Abs. 1 EGVVG als abweichende Überleitungsvorschrift anzusehen, würde dies zu einer Geltungsbeschränkung der neuen Gerichtsstandsklausel in § 215 VVG und damit des neuen Rechts führen. Greife Art. 1 Abs. 1 EGVVG nicht ein, sei auch Art. 1 Abs. 2 EGVVG nicht anwendbar. Schon sein Wortlaut zeige, dass er auf den vorherigen Absatz aufbaut. Auch Gründe verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutzes würden nichts anderes gebieten.

Praxishinweis

Die Praxisrelevanz der Diskussion um die Frage, ob der Regelungsbereich des Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG auch die prozessrechtliche Norm des § 215 VVG erfasst, hat in den vergangenen Jahren aufgrund Zeitablaufs mehr und mehr abgenommen (vgl. BeckOK VVG/Staudinger, Stand 30.06.2016, § 215 Rn. 21; Schneider in Beckmann/Matusche-Beckmann, VersR-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 1a Rn. 34a). Nun ist das Problem höchstrichterlich entschieden. Mit der Verneinung der Frage schließt sich der BGH im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 EGVVG unter anderem der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Frankfurt a.M. (NJOZ 2009, 2246), Koblenz (VersR 2010, 1356) und Saarbrücken (VersR 2008, 1337) sowie Teilen der Literatur (vgl. Armbrüster in Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl. 2015, Art. 1 EGVVG Rn. 5, 8; BeckOK-VVG/Staudinger, Stand 30.06.2016, § 215 Rn. 21; Schneider in Beckmann/Matusche-Beckmann, VersR-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 1a Rn. 45b; Fricke, VersR 2009, 15, 20) an.

Gleichzeitig hat der BGH die innerhalb der Gegenauffassung (unter anderem OLG Bamberg, VersR 2011, 513; OLG Braunschweig, NJOZ 2012, 804; OLG Düsseldorf, VersR 2010, 1354; OLG Stuttgart, r + s 2009, 102; OLG Hamm, r + s 2009, 403; Brand, VersR 2011, 557, 559) strittige Frage, ob und inwieweit auch Art. 1 Abs. 2 EGVVG anwendbar ist, entschieden. Die Ansicht des Senats, dass § 215 VVG in sachlicher Hinsicht auch auf deliktische Ansprüche und solche aus Bereicherung anwendbar ist, sofern sie im Zusammenhang mit dem Versicherungsverhältnis oder dessen Anbahnung/(Rück-)Abwicklung stehen, entspricht auch der herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. nur Langheid/Wandt/Looschelders, VVG, 2. Aufl. 2017, § 215 Rn. 31; Prölss/Martin/Klimke, VVG, 29. Aufl. 2015, § 215 Rn. 4; Rüffer/Halbach/Schimikowski/Muschner, VVG, 3. Aufl. 2015, § 215 Rn. 6; Langheid/Rixecker/Rixecker, VVG, 5. Aufl. 2016, § 215 Rn. 5).

Redaktion beck-aktuell, 21. April 2017.