Rechtsmissbräuchliche Ausübung des Widerspruchsrechts bei geringfügigem Belehrungsfehler

Ein Bereicherungsanspruch kann nach § 242 BGB wegen rechtsmissbräuchlicher Ausübung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. ausgeschlossen sein, wenn dem Versicherungsnehmer bei einem geringfügigen Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen worden ist, das Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Dies hat der Bundesgerichtshof am Mittwoch entschieden.

Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung geltend gemacht

Die Klägerin machte aus behauptet abgetretenem Recht Ansprüche auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung fondsgebundener Lebens- und Rentenversicherungsverträge geltend. Die Verträge wurden zwischen den jeweiligen Versicherungsnehmern und der Beklagten mit Versicherungsbeginn zum 01.11.2002  und 01.12.2002 nach dem sogenannten Policenmodell des § 5a VVG a. F. abgeschlossen. Die Versicherungsnehmer kündigten die Verträge 2016 und 2017 und erklärten jeweils 2018 den Widerspruch nach § 5a VVG a. F.

Vorinstanz geht von Folgenlosigkeit des Belehrungsfehlers aus

Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Geltendmachung des Rückabwicklungsanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers in den Fortbestand des Vertrags komme in Betracht, wenn Umstände vorlägen, die den Schluss darauf zuließen, dass der Versicherungsnehmer auch in Kenntnis seines Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätte. Dies sei hier der Fall. Der Fehler der Belehrung über die einzuhaltende Schriftform anstelle der ausreichenden Textform für die Widerspruchserklärung könne die Versicherungsnehmer nicht ernsthaft von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung geltenden Frist abgehalten haben. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.

BGH gibt Vorinstanz Recht – Verstoß gegen Treu und Glauben

Der BGH hat entschieden, dass die Ausübung des Widerspruchsrechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Denn dies stelle eine nur geringfügige, im Ergebnis folgenlose Verletzung der Pflicht des Versicherers zur ordnungsgemäßen Belehrung dar. Rechtsfehlerfrei habe das Berufungsgericht dies für den hier zu beurteilenden Fall angenommen, in dem den Versicherungsnehmern die unrichtige Information über ein Recht zum schriftlichen Widerspruch erteilt wurde, obwohl nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 01.08.2001 gültigen Fassung ein Widerspruch in Textform genügte.

EuGH-Rechtsprechung führt zu keiner anderen Bewertung

Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerspruchsrechts in diesem Fall stehe auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, sodass eine Vorlage an diesen nicht veranlasst gewesen sei, so der BGH. Dass der EuGH hiervon mit seinem Urteil vom 09.09.2021 (NJW 2022, 40) abweichen wollte, sei nicht ersichtlich. Diese Entscheidung beziehe sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 RL 2008/48/EG vorgesehenen zwingenden Angaben fehlt. Insoweit habe sich der EuGH zu der von ihm im Versicherungsvertragsrecht vorgenommenen Differenzierung nach der Bedeutung des Belehrungsmangels nicht geäußert.

Berufung auf Unwirksamkeit nach jahrelanger Vertragsdurchführung widersprüchlich

Die Frage, ob das Policenmodell mit den Lebensversicherungsrichtlinien der Europäischen Union unvereinbar ist, sei ferner nicht entscheidungserheblich gewesen, betonte der BGH. Auch im Fall einer unterstellten Unionswidrigkeit des Policenmodells sei es dem – im Wesentlichen – ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer, der sich aus den genannten Gründen nicht auf die geringfügige Fehlerhaftigkeit der Belehrung berufen könne, nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.

Auch keine EuGH-Vorlage zum Einwand von Treu und Glauben

Zum Einwand von Treu und Glauben war nach Ansicht des BGH ebenfalls keine Vorlage an den EuGH erforderlich. Die Maßstäbe für dessen Berücksichtigung seien in der Rechtsprechung des EuGH geklärt und die Annahme rechtsmissbräuchlichen Verhaltens stehe in Fällen wie dem vorliegenden damit in Einklang. Etwas anderes ergebe sich nicht aus den Ausführungen des EuGH zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 09.09.2021. Für den Bereich der Lebensversicherungen habe der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen, insbesondere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzelnen regeln können. Das gelte sowohl für die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung als auch für die Richtlinien 2002/83/EG und die Solvabilität-II-Richtlinie.

Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben zulässig

Dabei müssten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleistet ist (NJW 2020, 667). Diese Rechtsprechung habe der EuGH im Anschluss an seine Entscheidung vom 09.09.2021 für die Rechtsfolgen der Nichterfüllung oder der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der in den Richtlinien vorgesehenen vorvertraglichen Mitteilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Versicherungsvertrag bestätigt (vgl. NJW 2022, 1513). Damit komme es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen hier nicht an. Vielmehr sei im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinien ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zulässig, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinien – wie hier – nicht beeinträchtigt werde.

BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21

Redaktion beck-aktuell, 15. Februar 2023.