Zeugenaussagen dürfen nicht ignoriert werden

Gibt es nur eine Zeugenaussage und die Einlassung des Täters, die das unmittelbare Tatgeschehen wiedergeben, ist die Darstellung und Würdigung dieser Zeugenaussage unabdingbar. Der Bundesgerichtshof hob ein Urteil auf, weil es dem Urteil nur die Schilderung des jugendlichen Täters zugrunde gelegt hatte. Der Strafprozess um einen eskalierten Streit im Drogenmilieu wurde deshalb an das Landgericht zurückverwiesen.

Streit ums Drogengeschäft endete mit Schraubenzieher im Kopf

Der 17-jährige Täter fuhr mit vier weiteren Personen zu einem Betäubungsmittelhändler, um seinen Freund zu unterstützen, der den Sachverhalt um ein vorangegangenes Geschäft "klären" wollte. Dort angekommen, wurden sie bereits erwartet: Der Händler forderte sie unmissverständlich auf, zu gehen, sonst werde er die Polizei holen. Inzwischen war auch ein Nachbar von ihm auf den Vorfall aufmerksam geworden und herangekommen. Die Ankömmlinge wollten sich zurückziehen, der Wagen mit dem Jugendlichen wurde aber durch eine Axt, die in die Heckscheibe des Wagens gestoßen wurde, aufgehalten. Der Nachbar hatte zudem die Autotür aufgerissen und versucht, den Fahrer aus dem Auto zu ziehen. Der Jugendliche stieg aus, nahm einen Schraubenzieher und zog den Nachbarn von seinem Fahrer weg. Dieser wehrte sich und schlug dem Siebzehnjährigen mit der Faust ins Gesicht. Dann standen sich die beiden Kontrahenten kurz gegenüber, bevor der Jugendliche seinem Gegner den Schraubendreher acht Zentimeter tief in den Schädel hieb. Das Landgericht Braunschweig verurteilte den Täter wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, die es zur Bewährung aussetzte. Für den von ihnen festgestellten Sachverhalt stützten sich die Richter "im Wesentlichen" auf die Angaben des Angeklagten. Der Nachbar ging als Nebenkläger in die Revision zum Bundesgerichtshof – mit Erfolg.

Zeugenaussage des Verletzten ignoriert

Der BGH hob das Urteil auf, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts lückenhaft war. Insbesondere fehlte den Leipziger Richtern jegliche nähere Darstellung und Würdigung der Angaben des verletzten Nachbarn zum Tatgeschehen. Die Besonderheiten der konkreten Beweislage – niemand außer dem Täter und seinem späteren Opfer konnte etwas zu dem Stich und dem vorherigen Beil im Autofenster sagen – hätten aber zu einer nachvollziehbaren Würdigung seiner Angaben gedrängt. Gerade dann sei den Angaben des Nachbarn eine besondere Bedeutung zugekommen. Außerdem ist es dem 6. Strafsenat zufolge widersprüchlich, die Einlassung des Täters zugrunde zu legen, obwohl der Täter selbst behauptet habe, sich nicht mehr an den Stich erinnern zu können.

BGH, Urteil vom 15.06.2022 - 6 StR 401/21

Redaktion beck-aktuell, 4. Juli 2022.