Berufung: Erst begründen lassen, dann Verwerfung ankündigen

Ein Gericht muss zumindest die Berufungsbegründung abwarten, bevor es entscheidet, dass das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat. Andernfalls liegt darin laut BGH eine Gehörsverletzung.

Ein Geschwisterpaar stritt sich nach einem Erbfall um den Besitz an einem Grundstück. Nachdem ihr Bruder in erster Instanz gewonnen hatte, ging seine Schwester zwei Tage nach Verkündung des Urteils und vor Erhalt der Begründung des Landgerichts in Berufung und stellte den Antrag, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einzustellen.

Das OLG wies den Vollstreckungsschutzantrag der Schwester zurück. Am selben Tag kündigte es – noch während die (verlängerte) Berufungsbegründungsfrist lief – die Verwerfung des Rechtsmittels nach § 522 ZPO ("als offensichtlich aussichtslos") an. Nachdem die Berufungsbegründung dann eingegangen war, verwarf der Senat dann entsprechend das Rechtsmittel. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Schwester war erfolgreich und führte zur Zurückverweisung an das OLG.

Der XII. Zivilsenat des BGH hob die Entscheidung des OLG wegen Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG auf (Beschluss vom 12.6.2024 – XII ZR 92/22). Es habe seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch gar nicht begründet gewesen sei, monierten die Richterinnen und Richter.

Nochmaliger Hinweis erforderlich

Zwar enthalte das Gesetz keine ausdrückliche Regelung, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen habe. Für den BGH ist allerdings klar, "dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann." Demnach hätte das OLG der Frau einen (nochmaligen) Hinweis erteilen müssen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme der Berufungsgründen nicht verändert habe.

Der BGH konnte nicht ausschließen, dass das OLG bei einem weiteren Hinweisbeschluss zu einer abweichenden Beurteilung gelangt wäre. Die Sache muss daher erneut verhandelt werden.

BGH, Beschluss vom 12.06.2024 - XII ZR 92/22

Redaktion beck-aktuell, ns, 9. August 2024.