Fristversäumnis wegen Missverständnisses
Eine Anwältin machte in einer Fallakte für sich einen Vermerk, wonach sie die Berufungsbegründungsfrist verlängern wollte, falls ein Parallelurteil noch nicht vorliege. Ihre Angestellte verstand das als Arbeitsauftrag und löschte eigenmächtig die Frist im Kalender, obwohl die Notiz nicht für sie bestimmt war. Vielmehr war es in der Kanzlei Usus, der Frau alle Arbeitsanweisungen zu diktieren, oder sie ihr persönlich bzw. über ihren digitalen Postkorb zu erteilen. Handschriftliche Vermerke in oder auf der Akte hatten sie nicht zu interessieren. Diese Praxis hatte auch jahrelang so funktioniert. Einen Tag nach Ablauf der Frist beantragte die Prozessbevollmächtigte für ihren Mandanten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - vorerst vergeblich: Das Landgericht Frankfurt am Main verwarf die Berufung als unzulässig. Der Kläger erhob daraufhin erfolgreich die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof.
Konkrete Umstände entscheidend
Der BGH hob die Entscheidung des Landgerichts auf, weil sie den Beschwerdeführer in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt habe. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung nach § 233 ZPO sei stattzugeben gewesen: Der Prozessbevollmächtigten könne hier kein Verstoß gegen Sorgfaltspflichten vorgeworfen werden, weil sie wegen der allgemeinen Verfügungspraxis nicht damit rechnen musste, dass ihre Angestellte den Vermerk als Anweisung zur Löschung fehldeutet. Der VI. Zivilsenat hob hervor, dass die Frage, ob eine Aktennotiz als Einzelanweisung missverstanden werden kann, nicht abstrakt, sondern anhand der konkreten Umstände der jeweiligen Büroorganisation zu beurteilen sei.