Der als "Dieselgate" in die Wirtschaftsgeschichte eingegangene Abgas-Skandal erschütterte 2015 die deutsche Automobilwirtschaft, allen voran den Volkwagen-Konzern. Die juristische Aufarbeitung dauert bis heute an und umfasst nicht nur die zahlreichen Klagen von Kundinnen und Kunden auf Schadensersatz, sondern auch gesellschaftsrechtliche Fragen mit Bedeutung weit über den Abgas-Skandal hinaus: Welche Rechte haben Aktionärinnen und Aktionäre bei Haftungsvergleichen des Unternehmens mit Personen aus der Management-Ebene, die für den Skandal verantwortlich sind? Welche Spielräume und Pflichten haben die Organe der Gesellschaft beim Verzicht auf Haftungsansprüche? Über diese Fragen verhandelt am Dienstag der BGH.
Die Rolle von Winterkorn & Co. im Diesel-Skandal
Nachdem im September 2015 aufflog, dass VW mit dem massenhaften Einsatz von Abschalteinrichtungen in Dieselmotoren Emissionstests manipuliert hatte, stand schnell die Rolle der Führungsriege des Automobilkonzerns im Fokus. Bereits 2017 ordnete das OLG Celle auf Antrag von Aktionärinnen und Aktionären eine Sonderprüfung nach § 142 AktG an (Beschluss vom 8. November 2017 - 9 W 86/17), um mögliche Pflichtverletzungen von Vorstand und Aufsichtsrat im Zusammenhang mit der Abgasaffäre zu untersuchen.
Der Aufsichtsrat selbst beauftragte eine Wirtschaftskanzlei mit einer umfassenden internen Untersuchung, die Anfang 2021 zu dem Ergebnis kam, dass der ehemalige VW-CEO Martin Winterkorn, der Ex-Audi-Chef Rupert Stadler sowie weitere Manager durch Verletzungen ihrer Sorgfaltspflichten dazu beigetragen hatten, dass dem Konzern infolge des Abgasskandals ein Milliardenschaden entstand. Zu diesem Zeitpunkt beliefen sich die finanziellen Folgen der Manipulation für VW bereits auf mehr als 32 Milliarden Euro.
Der Aufsichtsrat teilte daraufhin mit, die fünf ehemaligen Entscheidungsträger auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen. Medienberichten zufolge verlangten die Wolfsburger von Winterkorn mehr als eine Milliarde Euro Schadensersatz. Winterkorn und das übrige Konzern-Management verfügten nach Informationen aus dem Markt gemeinsam über eine Deckung durch die Managerhaftpflichtversicherung in Höhe von 500 Millionen Euro.
Vergleiche als vorschneller Schlussstrich?
Um einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung zu ziehen, schloss VW im Juni 2021 umfangreiche Haftungsvergleiche mit den früheren Top-Managern sowie parallele Deckungsvergleiche mit den beteiligten D&O-Versicherern. Ungewöhnlich schnell kam es so zu einer allseitigen Lösung der Rechtsfragen zwischen Gesellschaft, Management und Versicherern. Häufig kommen solche Vergleiche erst mehrere Jahre später zustande.
Die Eckdaten des Pakets: Volkswagen erhält rund 288 Millionen Euro. Davon tragen die D&O-Versicherer mit rund 270 Millionen Euro bei weitem den Löwenanteil. Vier ehemalige Vorstände leisteten zusammen etwa 17,8 Millionen Euro aus eigener Tasche. Größter Zahler war Martin Winterkorn mit 11,2 Millionen Euro, gefolgt vom früheren Audi-Chef Rupert Stadler mit 4,1 Millionen. Zudem zahlten Wolfgang Hatz (1,5 Millionen Euro) und Stefan Knirsch (1 Million Euro) vergleichsweise kleinere Beträge.
Im Gegenzug erreichten die Ex-Manager und ihre Versicherer Rechtssicherheit: Volkswagen erklärte sich bereit, die betreffenden Vorstände von etwaigen Ansprüchen Dritter freizustellen und auf weitere Schadensersatzansprüche gegen aktuelle oder ehemalige Organmitglieder im Zusammenhang mit dem Diesel-Komplex zu verzichten. Die beteiligten D&O-Versicherer konnten durch diese Regelung den Schadenfall endgültig abschließen, ohne befürchten zu müssen, noch für weitere versicherte Managerinnen oder Manager einstehen zu müssen.
Die getroffenen Vereinbarungen bedurften der Zustimmung der Aktionärinnen und Aktionäre. Entsprechend legte der Aufsichtsrat die Vergleiche der Hauptversammlung vom 22. Juli 2021 zur Abstimmung vor. Die Anlegerschaft billigte alle Vereinbarungen mit überwältigender Mehrheit von über 99%.
Aktionärsvertreter fechten Vergleiche an
Unmittelbar nachdem die Hauptversammlung die Vergleiche genehmigt hatte, formierte sich Widerstand durch Aktionärsschutzvereinigungen. Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) und die Verbraucherzentrale für Kapitalanleger reichten gemeinsam im August 2021 Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage gegen die Zustimmungsbeschlüsse beim LG Hannover ein (Az. 23 O 63/21). Kern ihrer Argumentation war, dass die Vergleiche gegen aktienrechtliche Vorschriften verstießen, zu früh kämen und die Verantwortlichen zu günstig davonkommen ließen.
So behaupteten die Kläger, der Aufsichtsrat habe die aktienrechtlichen Vorgaben für einen Haftungsverzicht nicht eingehalten. Möchte eine AG gegenüber einem Manager oder einer Managerin auf Schadensersatzansprüche verzichten, dann kann sie dies nur unter den Voraussetzungen, die § 93 Abs. 4 S. 3 AktG bestimmt: Zum einen muss die Hauptversammlung zustimmen, zum anderen darf keine qualifizierte Minderheit von 10% des Grundkapitals Widerspruch einlegen. Zudem ist eine 3-Jahres-Frist ab Entstehen des Anspruchs abzuwarten. Diese Regel soll übereilte Deals zum Nachteil der Gesellschaft verhindern und Minderheitsaktionärinnen und -aktionäre schützen. Die Kläger argumentierten, dass selbst wenn die 3-Jahres-Frist bereits abgelaufen sei, die noch laufende Sonderprüfung einen Vergleichsabschluss verbiete. Der Zweck der Sonderprüfung, Managerinnen und Manager auf unabhängiger Basis zivilrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, werde andernfalls konterkariert.
Zudem bemängelten die Kläger, der Hauptversammlung hätten zu wenige Informationen zur Tragweite der Vergleiche vorgelegen, obwohl gemäß § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG die wesentlichen Inhalte von Verträgen bekanntzumachen seien, bevor über sie abgestimmt werde. Der Aufsichtsrat habe die Aktionärinnen und Aktionäre insbesondere mit den Freistellungsklauseln und dem Verzicht auf weitere Haftungsansprüche "überrumpelt". Die sich aus den Vergleichen ergebenden Verpflichtungen für den VW-Konzern seien zum Zeitpunkt der Hauptversammlung noch gar nicht absehbar gewesen. Weder einen "Höchstschaden" noch das verfügbare Privatvermögen der Verantwortlichen habe der Konzern ermittelt.
Aus Sicht der Kläger steht die Vergleichssumme in keinem Verhältnis zum Gesamtschaden von über 32 Milliarden Euro. Lediglich knapp 1% dieses Schadens werde eingezogen, obwohl die verantwortlichen Manager finanziell weit höhere Beiträge leisten könnten und auch die D&O-Deckung noch längst nicht ausgeschöpft sei. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Anteil, den Winterkorn zu zahlen hatte, nur rund ein Jahresgehalt seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender betrug. Allerdings ist es üblich, dass Haftungsvergleiche unter Einbeziehung der D&O-Versicherer nur eine symbolische Beteiligung durch den Manager oder die Managerin vorsehen. Im Fall Volkswagen hätte wohl auch das gesamte Privatvermögen der in Anspruch genommenen Personen nicht für eine mehr als bruchteilhafte Schadenkompensation gereicht.
Darüber hinaus machten die Aktionärsschützer Interessenkonflikte geltend: Ausgerechnet diejenigen Organmitglieder, die von den Haftungsverzichten profitierten – insbesondere einige Aufsichtsräte – hätten die Vergleiche selbst mit vorbereitet und der Hauptversammlung zur Zustimmung empfohlen. Dies erscheine als rechtsmissbräuchlich zu Lasten des Unternehmens.
LG Hannover hielt Beschlüsse für wirksam
In der ersten Instanz unterlag die Klägerseite vollständig. Das LG Hannover wies ihre Klage am 12. Oktober 2022 ab. Nach Ansicht der 3. Kammer für Handelssachen lagen weder Nichtigkeits- noch Anfechtungsgründe vor. Das Gericht fand keine formellen Fehler bei Einberufung und Durchführung der Abstimmung. So sei die Bekanntmachung der Tagesordnung und des Beschlussvorschlags ordnungsgemäß erfolgt. Die Bestimmtheit der Beschlüsse und Informationslage habe den Anforderungen genügt – die Aktionärinnen und Aktionäre hätten im Kern gewusst, worüber sie abstimmten. Freistellungsvereinbarungen und Haftungsverzichte seien im Rahmen von Vergleichen üblich und hätten die Aktionäre daher kaum überraschen dürfen.
Dass der Sachverhalt noch nicht vollständig aufgeklärt gewesen sei, sei unerheblich. Für den Vergleich genüge, dass ein anerkennenswerter Schaden entstanden sei; dessen letztendliche Gesamthöhe müsse nicht feststehen, so die Kammer. Die noch laufende Sonderprüfung entfalte deshalb ebenfalls keine Sperrwirkung für Vergleiche.
Auch ein möglicher Interessenskonflikt stehe der Wirksamkeit der Beschlüsse nicht entgegen. Schließlich sei der Aufsichtsrat verpflichtet, Vorschläge zur Beschlussfassung vorzulegen – unabhängig davon, ob er selbst von ihnen profitiere. Andernfalls wären einer Aktiengesellschaft grundsätzlich keine Haftungsvergleiche mehr möglich, die auch aktuelle Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat beträfen.
BGH entscheidet über Reichweite des Aktionärsschutzes
Gegen die Entscheidung legten die Kläger Berufung ein. Am 29. November 2023 bestätigte das OLG Celle (Az. 9 U 93/22) jedoch das erstinstanzliche Urteil. Es hielt die Beschlüsse ebenfalls für wirksam, erkannte aber an, dass die aufgeworfenen aktienrechtlichen Fragen grundsätzliche Bedeutung hätten und ließ daher die Revision zu.
Ob die Vorinstanzen mit ihrem Urteil richtig lagen, muss nun der II. Zivilsenat des BGH entscheiden (Az.: II ZR 154/23) und dabei mehr als nur eine Abwägung zwischen der Handlungsfähigkeit der Aktiengesellschaft und dem gebotenen Schutz der Aktionärsinteressen vornehmen. Letztlich geht es um eine Frage, die über jedem Haftungsvergleich mit Managerinnen und Managern steht: Wie weit muss das Unternehmen gehen, um einen Schaden möglichst vollständig zu kompensieren? Darf das Unternehmen das ehemalige Management im Sinne einer schnellen Erledigung mit einem blauen Auge davonkommen lassen – oder muss es versuchen, nicht nur die volle D&O-Deckung zu erlangen, sondern notfalls auch in das gesamte Privatvermögen aller pflichtwidrig handelnden Managerinnen und Manager zu vollstrecken? Polemisch gefragt: Wie sicher darf die Villa dessen sein, der einen Milliardenkonzern in die Krise stürzt?
Im Fall Volkswagen – mit über einhundert potenziell haftpflichtigen Mangerinnen und Managern – hätten sich am Ende womöglich deutlich mehr als 288 Millionen Euro realisieren lassen, wenn in der Konzernführung die Bereitschaft für eine harte und langfristige Auseinandersetzung mit den ehemaligen Vorständen bestanden hätte. Ob die möglichen Kosten und Risiken einer solchen Auseinandersetzung die Zugeständnisse des jetzigen Vergleichs rechtfertigen, ist die entscheidende Frage. Eine solche Entscheidung ist aber stets zum Wohle der Gesellschaft und ihrer Anteilseignerinnen und -eigner zu treffen – und nicht im Eigeninteresse des Aufsichtsrats.
Dr. Mark Wilhelm ist Rechtsanwalt und Partner bei Wilhelm Rechtsanwälte. Er ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und berät Mandantinnen und Mandanten insbesondere zu den Themen Managerhaftung und D&O-Versicherungen.