Das Straßenverkehrsrecht ist eine stete Abwägung von Sorgfaltspflichten. Wer aus einem Grundstück auf eine Straße fährt, muss schauen, dass er dabei niemandem in die Quere kommt. Aber auch, wer die Vorfahrt hat, muss immer Rücksicht nehmen auf mögliche Gefahrenquellen. Das findet sich als Grundregel des Straßenverkehrs ganz prominent in § 1 StVO.
Aus diesem Grundsatz gegenseitiger Rücksichtnahme hat sich vor Jahren bereits die sogenannte Lückenrechtsprechung entwickelt. Diese betrifft beispielhaft folgenden Sachverhalt: Auf einer in beide Richtungen zweispurigen Vorfahrtsstraße kommt auf dem rechten Fahrstreifen vor einer Kreuzung der Verkehr ins Stocken. Ein Pkw will die Kolonne von Fahrzeugen auf dem linken Streifen überholen. Was er nicht beachtet hat: Jemand in der Kolonne hat vor der Einmündung der kreuzenden (nicht vorfahrtsberechtigten) Straße gehalten, um einer dort inzwischen verzweifelt auf ihre Chance zur Weiterfahrt wartenden Verkehrsteilnehmerin die Durchfahrt zu ermöglichen. Diese fährt nun freudig heraus, sieht jedoch das überholende Auto nicht kommen und kollidiert mit ihm.
Was wäre nun die Folge? Grundsätzlich würde die Fahrerin, die aus der Lücke herausfährt (bzw. die Halterin oder der Halter ihres Fahrzeugs), für die Unfallschäden zu 100% haften, denn gemäß § 8 Abs. 2 S. 2 StVO darf ein Pkw auf eine Vorfahrtsstraße nur einfahren, wenn eine Gefährdung des restlichen Verkehrs auszuschließen ist. Bei einem Verstoß gegen diese Regel tritt auch die Betriebsgefahr, die normalerweise bei einem Unfall auch dem- bzw. derjenigen zugerechnet wird, der bzw. die eigentlich nichts "falsch" gemacht hat, zurück.
"Lückenrechtsprechung" als Ausweg im stockenden Großstadtverkehr
Das findet die Rechtsprechung allerdings unbillig und beruft sich dazu auf den bereits genannten § 1 StVO und die daraus folgende Rücksichtnahmepflicht auch desjenigen, der die Vorfahrt hat. Denn gerade im modernen Massenverkehr in Großstädten sehen Gerichte das Bedürfnis, dass Autos auf kreuzenden Straßen, die durch Stau auf einer Vorfahrtsstraße blockiert werden, eine Lücke ausnutzen dürfen, die ihnen andere Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer gewähren. Grundsätzlich hilft ihnen die Freundlichkeit anderer nämlich wenig, wenn sie nicht mit diesen selbst, sondern einem Pkw kollidieren, dessen Fahrer bzw. Fahrerin nicht auf die Vorfahrt verzichtet hat. Das Verkehrsrecht hat hierfür den wunderbaren Begriff "gefährdende Höflichkeit" entwickelt. Aus diesem Grund ist es seit vielen Jahren gefestigte Rechtsprechung, dass, wer eine solche Fahrzeugkolonne mit einer Lücke vor einer Kreuzung überholt, darauf zu achten hat, ob dort möglicherweise ein anderes Auto ausfährt. Das erspart den Ausfahrenden nicht etwa die ganze, aber doch circa 25% der Haftung.
Im Fall, der nun den BGH erreicht hat, verhielt es sich ein wenig anders: Ein Pkw fuhr eine Straße entlang, an deren rechter Seite auf einem Parkstreifen ein anderes Auto stand. Danach folgte ein am Straßenrand haltender Lkw, unmittelbar dahinter schließlich eine Zufahrt auf ein Firmengelände. Der Fahrer des Autos auf dem Parkstreifen wollte sein Auto auf die andere Seite der Straße umparken. Er fuhr dazu rechts (und teilweise über den Gehweg) am haltenden Lkw vorbei und nutzte die Zufahrt, um aus dieser auf die Straße zu fahren und zu wenden. Dabei stieß er mit dem Auto zusammen, das zeitgleich über die Straße – somit links am haltenden Lkw vorbei – auf die Einfahrtstelle zufuhr.
Stehender Lkw nicht mit stockender Kolonne vergleichbar
Die erstinstanzlich mit dem Fall beschäftigte LG löste den Streit nach der "Lückenrechtsprechung" und sah ein 25%iges Mitverschulden des Fahrers im fließenden Verkehr. Im Übrigen haftete natürlich der einfahrende Fahrer, da dieser gegen die Sorgfaltsanforderungen nach § 10 S. 1 StVO (Einfahren und Anfahren) und § 9 Abs. 5 StVO (Wenden) verstoßen hatte. Dem trat bereits das Berufungsgericht entgegen. Und auch der VI. Zivilsenat des BGH hielt die "Lückenrechtsprechung" hier nicht für anwendbar (Urteil vom 04.06.2024 – VI ZR 374/23).
Die Sorgfaltspflicht, die sich beim Überholen einer Kolonne im Fall einer sich auftuenden Lücke wegen erwartbarem Querverkehr ergebe, bestehe "nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw", so der Senat. Sinn und Zweck der "Lückenrechtsprechung" sei es, "dass der vorfahrtsberechtigte, die Kolonne überholende Verkehrsteilnehmer gerade durch das Stocken der Kolonne und die Lückenbildung konkreten Anlass hat, besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht länger auf die Einhaltung seines Vorrangs zu vertrauen".
Im hiesigen Fall habe der vorfahrtsberechtigte Fahrer aber gerade nicht eine ins Stocken geratene Kolonne überholt, sondern nur einen in zweiter Reihe stehenden Lkw umfahren. Diese habe auch nach den tatrichterlichen Feststellungen nicht erst wegen des einfahrenden Fahrzeugs aus der Firmenzufahrt gehalten, sondern bereits vorher gestanden. Allein, dass der Lkw in zweiter Reihe vor der Zufahrt gestanden habe, habe den Pkw-Fahrer nicht zu größerer Vorsicht veranlassen müssen.