BGH rügt falsche Führung von E-Akte
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Zivilgerichte dürfen ein sogenanntes Protokollurteil verkünden, wenn eindeutig kein Rechtsmittel zulässig ist. Aber dabei sind diverse Vorschriften zu beachten. Der BGH hat jetzt eine solche Entscheidung des LG Stuttgart zerpflückt. Die Liste der Beanstandungen aus Karlsruhe ist lang.

Zugrunde lag die Klage einer Vermieterin gegen eine Mieterin auf Räumung, Zahlung rückständiger Miete und einer Nachzahlung von Betriebskosten. Das AG Schorndorf gab ihr recht, das LG Stuttgart weitgehend auch. In der Landeshauptstadt wurde die Akte elektronisch geführt. Doch damit begann der erste Teil der Probleme. Am Ende der Sitzung verkündete die Kammer ein von allen drei Richtern signiertes Urteil (§ 130b Satz 1 ZPO). Doch  enthielt dieses lediglich das Rubrum (§ 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO) und die Entscheidungsformel (§ 313 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Unter der Überschrift "Gründe" hieß es lediglich, dass von einem Tatbestand und der Ausformulierung von Entscheidungsgründen "gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 2 ZPO abgesehen" werde. Denn ein Rechtsmittel gegen das Urteil sei unzweifelhaft nicht zulässig (§§ 542, 543 Abs. 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO), und der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe sei in das Protokoll der mündlichen Verhandlung aufgenommen worden.

Der BGH nahm an dem Verfahren in seiner am heutigen Mittwoch veröffentlichten Entscheidung (Beschluss vom 14.05.2024 – VIII ZR 15/24) in vielerlei Hinsicht Anstoß. "In dem zunächst vorläufig aufgezeichneten und nach Fertigstellung als elektronisches Dokument allein von der Vorsitzenden Richterin signierten Sitzungsprotokoll sind die Namen der Parteien nur mit einem Kurzrubrum angegeben", fasst er den Verlauf zusammen. Im Anschluss an die Berufungsanträge enthalte das Protokoll kurze rechtliche Erwägungen und Hinweise des Berufungsgerichts zur (Un-)Begründetheit der Berufung sowie verschiedene Prozesserklärungen der Parteien. Danach bestehe ein Räumungsanspruch der Klägerin, weil diese die Kündigung des Mietverhältnisses wirksam ausgesprochen habe und die Kündigung aufgrund des Rückstands auch begründet sei. Doch: "Das Sitzungsprotokoll und das Urteil des Berufungsgerichts sind in der Gerichtsakte jeweils als gesonderte elektronische Dokumente vorhanden, nicht jedoch miteinander verbunden", monieren die Bundesrichter – weshalb sie den Spruch aus Stuttgart aufhoben und den Fall dorthin zurückverwiesen.

"Offenkundige Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen"

Die Immobilieneignerin hatte nämlich eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Unter anderem wegen der Mängel beim Umgang mit der E-Akte hat der VIII. Zivilsenat eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gesehen. Denn das Berufungsgericht habe "in offenkundiger Verkennung" der rechtlichen Voraussetzungen ein Urteil erlassen, das nicht mit einem vorher erstellten und sämtliche Darlegungen nach § 540 Abs. 1 ZPO (der unter anderem eine kurze Begründung vorschreibt) enthaltenden Sitzungsprotokoll verbunden ist. Durch die "Missachtung" dieser Vorgaben lasse sich nicht erkennen, dass sich das LG mit dem Vorbringen der Beklagten in der Berufungserwiderung befasst habe. Das Protokollurteil enthalte weder Feststellungen zum Tatbestand noch eine rechtliche Begründung. Die vom Berufungsgericht ins Sitzungsprotokoll aufgenommenen rechtlichen Erwägungen seien hingegen nicht zu berücksichtigen, weil sie weder Bestandteil des am Schluss der Sitzung verkündeten Berufungsurteils geworden seien noch die Anforderungen an ein (eigenständiges) Protokollurteil erfüllten.

Hinzu kam, dass das – aus mehreren Teilen bestehende – Protokollurteil schon im Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter in vollständiger Form hätte abgefasst sein müssen. Hingegen war das Sitzungsprotokoll, wie der Vermerk an dessen Ende zeige ("für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Übertragung vom Tonträger"), zunächst nur vorläufig aufgezeichnet worden; erst anschließend zu der am Schluss der Sitzung erfolgten Verkündung des abgekürzten Berufungsurteils wurde es als elektronisches Dokument erstellt. "Zudem fehlt es – bis heute – an der für die Herstellung des Bezugs des Berufungsurteils zu den in das Sitzungsprotokoll ,ausgelagerten' Darlegungen erforderlichen Verbindung von Sitzungsprotokoll und Urteil", so der VIII. Zivilsenat. Der bloße Hinweis im Urteil auf das Protokoll genüge dafür nicht. Die Verbindung beider Urkunden lasse sich auch nicht mehr nachholen, weil seit der Verkündung mehr als fünf Monate verstrichen seien.

Landgericht hatte sich auch noch verrechnet

Überdies macht der Karlsruher Beschluss diverse Fehler am Sitzungsprotokoll selbst geltend. So enthalte es weder die erforderlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO noch sämtliche nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Angaben. Und zwar: Die Parteien seien im Sitzungsprotokoll mit der Nennung lediglich ihrer Familiennamen im Rahmen eines Kurzrubrums nicht ausreichend bezeichnet. Die Urteilsformel sei darin nicht enthalten; dort werde lediglich auf "den entscheidenden Teil" des aus einer Anlage zum Protokoll ersichtlichen Urteils verwiesen. Zudem sei das Protokoll allein von der Vorsitzenden Richterin signiert worden, enthalte aber nicht wie erforderlich die Signaturen aller mitwirkenden Beisitzer.

Auch inhaltlich meldet der BGH Zweifel an. Möglicherweise hätte die Kündigung gegenüber dem Sohn der verklagten Mieterin ausgesprochen werden müssen. Zudem seien womöglich nach dem Versterben der ursprünglichen Vermieterin deren Erben und nicht die Klägerin in das Mietverhältnis eingetreten. Hinzu kommt ein weiterer, ganz anderer Fehler: Den Bundesrichtern zufolge hat sich das LG bei der Bemessung des Streitwerts verrechnet. Daher sei die Nichtzulassungsbeschwerde der Stuttgarter Prozessverliererin, der sie nun stattgegeben haben, entgegen dessen Ansicht durchaus zulässig.

BGH, Beschluss vom 14.05.2024 - VIII ZR 15/24

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 19. Juni 2024.