Verwertung einer Zeugenaussage ohne persönlichen Eindruck

Eine zwar protokollierte, aber nicht im Urteil gewürdigte Zeugenvernehmung kann vom Rechtsmittelgericht regelmäßig nicht ohne erneute Anhörung verwendet werden. Einzige Ausnahme, so der Bundesgerichtshof, ist, wenn der persönliche Eindruck keine Bedeutung hat. In diesem Fall könne auch die Niederschrift verwendet werden.

Verkürzte Autobahnauffahrt

Auf einer Autobahnauffahrt der A3 war es zu einem Unfall gekommen: Ein Pkw und ein Lastwagen waren seitlich kollidiert. Der Lkw sei auf die Beschleunigungsspur geraten, war sich der Beifahrer aus dem Auto sicher. Der Lkw-Fahrer konterte, dass der Autofahrer – wohl durch die baustellenbedingt verkürzte Auffahrt – direkt auf die rechte Spur gefahren sei. Im Prozess vernahm das Landgericht Darmstadt den Beifahrer und einen der herbeigerufenen Beamten. Im Ergebnis kam es aber zum Schluss, dass die Aussagen für den Fall keine Relevanz hätten, und wies die Klage mangels Aktivlegitimation ab. Das OLG Frankfurt am Main machte kurzen Prozess und verwarf die Berufung: Die Lebenserfahrung spreche eher für einen Fehler des Autofahrers. Der Aussage des Beifahrers stünden die Einschätzungen des Polizeibeamten entgegen. Insofern seien die Zweifel an seinen Angaben nicht zu überwinden.

Persönlicher Eindruck entscheidet

Der BGH akzeptierte dieses Ergebnis nicht: Eine Wiederholung einer Vernehmung stünde zwar im Ermessen des Berufungsgerichts, aber sei zum Beispiel dann notwendig, wenn von den Einschätzungen der ersten Instanz abgewichen werden solle. Diesem Fall, so der VI. Zivilsenat, stehe es gleich, wenn die Zeugenaussage nicht verwendet wurde und es somit an einer Bewertung fehlt. Dann könne das Protokoll nur als Basis dienen, wenn der persönliche Eindruck der Aussage ohne jede Relevanz sei. Hier habe das LG aber sogar eine Gegenüberstellung des Augenzeugen und des Polizisten veranlasst, da ihre Angaben sich widersprochen hätten. Ergänzend wiesen die Bundesrichter darauf hin, dass nur die positive Feststellung eines Vorfahrtsverstoßes durch den Pkw eine vollständige Klageabweisung rechtfertigen würde.

BGH, Beschluss vom 27.04.2021 - VI ZR 845/20

Redaktion beck-aktuell; Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 23. Juni 2021.