Verschlimmerung einer Krankheit als Härtegrund im Eigenbedarfsfall
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Verneint ein Gericht das Vorliegen von Härtegründen, ohne dabei ein erhebliches Beweisangebot einer Partei zu berücksichtigen, liegt darin ein Gehörsverstoß. Erscheint die Gefahr einer Verschlechterung der gesundheitlichen Situation eines (schwer) erkrankten Mieters durch einen Umzug möglich, muss der Sachverhalt laut Bundesgerichtshof sorgfältig aufgeklärt werden – falls erforderlich durch ein zweites Sachverständigengutachten.

Mieterin leidet an Multipler Sklerose

Ein Vermieter verlangte von seiner Mieterin die Räumung und Herausgabe seiner Wiesbadener Wohnung wegen Eigenbedarfs. Er hatte das Anwesen 2015 erstanden und ihr im April 2018 gekündigt. Die Beklagte, seit 2002 dort wohnend, widersprach der Kündigung und berief sich unter Vorlage eines ärztlichen Attests auf das Vorliegen von Härtegründen (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB). Ein Umzug sei ihr nicht zuzumuten, da sich ihr Krankheitsbild – eine fortschreitende Multiple Sklerose – ansonsten verschlimmern würde. Das Amtsgericht Wiesbaden vernahm mehrere Zeugen zum Vorliegen des Eigenbedarfs und holte ein Gutachten ein. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sah sich allerdings außerstande, eine fachliche Einschätzung zum Fortschreiten der Krankheit abzugeben. Das AG und das Landgericht Wiesbaden stimmten der Räumung und Herausgabe der Wohnung zu. Die Gekündigte könne keine Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, da ihre beeinträchtigte Gehfähigkeit keinen Härtefall begründe. Diesem Umstand könne allenfalls im Rahmen der Bemessung einer Räumungsfrist Rechnung getragen werden. Einer weiteren Begutachtung bedürfe es nicht. Die Revision ließ das LG nicht zu. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten beim BGH hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung an eine andere Kammer des LG.

Gericht hätte Sachverhalt sorgfältig aufklären müssen

Dem VIII. Zivilsenat zufolge hat das LG das Gehörsrecht der Mieterin verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Es hätte das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) nicht verneinen dürfen, ohne das (angebotene) neurologische Sachverständigengutachten zu dem behaupteten Beschwerdebild sowie zu den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs für die Beklagte zu erheben, monierten die BGH-Richter. Der Umstand, dass die Beklagte substanziiert ihr drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht habe, hätte das LG mangels eigener Sachkunde dazu veranlassen müssen, sich sachverständige Hilfe einzuholen. Dann hätte es sich ein genaues Bild davon verschaffen können, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen würden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten könne. Das LG hätte es nicht bei dem eingeholten Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie bewenden lassen dürfen. Seine Feststellungen zum Krankheitsbild der Beklagten beschränkten sich pauschal auf "Beeinträchtigungen beim Gehen", so die weitere Kritik. Die behauptete umzugsbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustands der Beklagten habe das LG vollständig übergangen. Dies müsse es nunmehr nachholen.

BGH, Beschluss vom 30.08.2022 - VIII ZR 429/21

Redaktion beck-aktuell, 28. September 2022.