BGH verneint Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses zur Durchführung eines sozialen Wohngruppenprojekts

Die Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses durch den Vermieter nach der Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB zwecks Durchführung eines sozialen Wohngruppenprojekts durch einen Dritten ist unwirksam, wenn die Fortsetzung des Mietverhältnisses die Finanzierung und Verwirklichung des Gesamtprojekts nicht gefährdet. Dies hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 10.05.2017 entschieden und damit seine Rechtsprechung zur Anwendung der Generalklausel bei Wohnraumkündigungen fortgeführt (Az.: VIII ZR 292/15).

Kläger verweist auf Sanierungsbedarf der Gebäude

Die Beklagten sind seit 1996 Mieter einer in einem Mehrfamilienhaus gelegenen Wohnung, die sie vom Rechtsvorgänger des Klägers angemietet haben. Das Hausgrundstück, das 2014 vom Kläger – einem eingetragenen Verein – erworben wurde, ist außerdem mit einer Scheune und einem Nebengebäude bebaut. Nach der Darstellung des Klägers sind sämtliche Gebäude sanierungsbedürftig. Der Kläger ist zugleich an einer Gesellschaft (GmbH) beteiligt, die Trägerin vielfältiger Einrichtungen mit umfassender medizinischer, sozialer, pädagogischer und rehabilitativer Betreuung ist. Diese beabsichtigt, die Gebäude unter Nutzung von Fördermitteln (Investitionsbetrag nach §§ 75 ff. SGB XII pro Tag und Wohnplatz) und ohne finanzielle Belastung für den Kläger im Rahmen eines "Arbeits- und Lebensprojekts" zu sanieren und umzubauen. Dabei sollen im bisherigen Mehrfamilienhaus und in der Scheune psychosoziale Wohngruppen mit insgesamt 23 Wohnplätzen und im Nebengebäude eine Tischlerei und Grünholzwerkstatt untergebracht werden. Der Kläger möchte das Grundstück zur Verwirklichung dieses Projekts an die Gesellschaft vermieten.

Räumungsklage in zweiter Instanz erfolglos

Mit Schreiben vom 01.08.2013 kündigte der Kläger das Mietverhältnis mit den Beklagten nach § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 BGB und begründete dies damit, dass andernfalls das geplante Arbeits- und Lebensprojekt nicht realisiert werden könne. Denn die Zahlung eines Investitionszuschusses von 2,1 Millionen Euro sei unabdingbar mit der Schaffung der Wohnplätze auch im Wohngebäude verbunden. Die Beklagten widersprachen der Kündigung und machten geltend, ein Kündigungsgrund liege nicht vor. Die auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichtete Klage hatte in der ersten Instanz Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht das erstinstanzliche Urteil allerdings abgeändert und die Klage abgewiesen, da der Kläger nicht ansatzweise dargelegt habe, welche Nachteile ihm selbst – und nicht der Gesellschaft – drohten, wenn das Projekt unter Aussparung der Wohnung der Beklagten umgesetzt würde. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht war mit der Umsetzung des Projekts unabhängig von den drei für die streitgegenständliche Wohnung geplanten Wohngruppenplätzen bereits begonnen worden. Es wurden nicht nur das Nebengebäude, sondern auch einzelne Räume des Wohnhauses nach ihrer Sanierung schon zweckentsprechend genutzt.

Rechtsprechung zum Nutzungsbedarf des Vermieters weiter konkretisiert

Der BGH hat entschieden, dass die streitgegenständliche Kündigung unwirksam ist, weil weder der vom Kläger geltend gemachte Kündigungstatbestand der Verwertungskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB) vorliege noch ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB gegeben sei. Der Kläger würde durch die Fortsetzung des Mietverhältnisses mit den Beklagten – selbst wenn man ihm zusätzlich zu seinen wirtschaftlichen Interessen die Berufung auf die von der Gesellschaft verfolgten gemeinnützigen Interessen gestattete –  keinen Nachteil "von einigem Gewicht" erleiden. Damit überträgt der BGH seine im Urteil vom 29.03.2017 entwickelte Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Anwendung der Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB bei einem Geschäftsbedarf des Vermieters (Az.: VIII ZR 45/16) auf weitere Fälle des Nutzungsbedarfs des Vermieters.

BGH: Mangels wirtschaftlicher Verwertungsabsicht keine Verwertungskündigung

Auch im nun entschiedenen Fall sei, so der BGH, einer der typisierten Regeltatbestände des § 573 Abs. 2 BGB, in denen der Gesetzgeber für die praktisch bedeutsamsten Fallgruppen selbst geregelt hat, unter welchen Umständen dem Erlangungswunsch des Vermieters Vorrang vor dem Bestandinteresse des Mieters zukommt, nicht einschlägig gewesen. Der vom Kläger zusätzlich zur Generalklausel nach § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB benannte Kündigungstatbestand der Verwertungskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB) setze voraus, dass der Vermieter durch den Fortbestand des Mietverhältnisses an einer Realisierung des dem Grundstück innewohnenden materiellen Werts, was in erster Linie durch Vermietung und Veräußerung geschieht, gehindert ist. Nach eigenen Angaben habe der Kläger jedoch überhaupt nicht die Erwartung gehegt, durch die Vermietung des – nach der Sanierung im Wert gestiegenen Grundstücks – an die Gesellschaft höhere Mieteinnahmen zu erzielen. Er habe vielmehr die Absicht verfolgt, das Anwesen der gewerblichen Nutzung zur Umsetzung eines sozialpolitisch erwünschten Zwecks zuzuführen. Damit schied nach dem Urteil des BGH schon mangels wirtschaftlicher Verwertungsabsicht eine Verwertungskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB aus.

Verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie beiderseits zu berücksichtigen

Bei Anwendung der danach allein noch in Betracht kommenden Generalklausel des § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB verlange das Gesetz eine einzelfallbezogene Feststellung und Abwägung der beiderseitigen Belange der betroffenen Mietvertragsparteien. Für die Bestimmung des berechtigten Interesses hätten die Gerichte zu beachten, dass sowohl die Rechtsposition des Vermieters als auch das vom Vermieter abgeleitete Besitzrecht des Mieters von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie geschützt sind. Allgemein verbindliche Betrachtungen verböten sich dabei.

Regeltatbestände als Anhalt für erforderliche Interessenabwägung

Wie der BGH bereits in seinem Urteil vom 29.03.2017 (Az.: VIII ZR 45/16) entschieden hat, gäben die typisierten Regeltatbestände des § 573 Abs. 2 BGB allerdings einen ersten Anhalt für die erforderliche Interessenbewertung und -abwägung. Die für die Anerkennung eines berechtigten Interesses im Sinne von § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderliche Gewichtigkeit der geltend gemachten Belange sei zunächst davon abhängig, mit welchem Regeltatbestand das geltend gemachte Interesse am ehesten vergleichbar ist. Ausgehend von diesen Grundsätzen reiche es in den Fällen, in denen das vom Vermieter geltend gemachte Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses eine größere Nähe zum Eigenbedarfstatbestand aufweist, regelmäßig aus, dass die Vorenthaltung der Mieträume für den Vermieter einen beachtenswerten Nachteil begründet. Sei das angeführte Interesse dagegen mehr mit der von § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB erfassten wirtschaftlichen Verwertung vergleichbar, müsse der Fortbestand des Wohnraummietverhältnisses für den Vermieter einen Nachteil von einigem Gewicht darstellen, der je nach Fallgestaltung auch die Intensität eines erheblichen Nachteils im Sinne von § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB erfordern könne.

BGH sieht kein berechtigtes Interesse des Klägers

Gemessen hieran sei im vorliegenden Fall kein berechtigtes Interesse des Klägers an der Beendigung des Mietverhältnisses gegeben. Dabei könne letztlich sogar offen bleiben, ob sich der Kläger als privater Vermieter überhaupt auf die Gemeinnützigkeit des von der GmbH – und damit von einer juristischen Person, mit der er nur gesellschaftsvertraglich verbunden ist – verfolgten Projekts berufen kann. In diesem Fall wäre sein Interesse zwar (auch) darauf gerichtet, psychosoziale Wohngruppenplätze einzurichten, also am Ende die Mietwohnung aus Gründen der Gemeinnützigkeit wiederum Wohnzwecken (einschließlich einer umfassenden Betreuung) zuzuführen. Insofern bleibe der personale Einschlag des Nutzungsinteresses jedoch deutlich hinter dem der Eigenbedarfskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) zurück. Daneben verfolge der Kläger auch (signifikante) wirtschaftliche Interessen. Zwar strebe er nicht die Erzielung höherer Mieten an. Er wolle aber eigene Aufwendungen für die erforderlichen Sanierungs- und Umbaumaßnahmen ersparen, indem er das Grundstück der Gesellschaft zur Verwirklichung des von dieser geplanten – und inzwischen auch teilweise bereits umgesetzten – Projekts zur gewerblichen Nutzung überlässt. Außerdem sei er als Gesellschafter an einem möglichen Gewinn beteiligt.

Finanzierung und Verwirklichung des Gesamtprojekts nicht gefährdet

Insgesamt habe die vom Kläger geltend gemachte Interessenlage damit eine größere Nähe zur Verwertungskündigung aufgewiesen, sodass für die Annahme eines berechtigten Interesses an der Beendigung des Mietverhältnisses erforderlich sei, dass der Vermieter durch die Vorenthaltung der Mieträume einen Nachteil von einigem Gewicht erleidet. Diese Schwelle erreichten die vom Kläger aufgeführten Gründe jedoch nicht. Insbesondere gefährde die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach den vom Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Finanzierung und Verwirklichung des Gesamtprojekts nicht, sondern führe lediglich dazu, dass drei von insgesamt 23 geplanten Wohngruppenplätzen nicht geschaffen werden könnten.

BGH, Urteil vom 10.05.2017 - VIII ZR 292/15

Redaktion beck-aktuell, 10. Mai 2017.

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