Unerreichbarkeit eines Zeugen im Strafprozess

Beantragt der Angeklagte die Vernehmung eines per internationaler Fahndung gesuchten Zeugen, weil dieser seine Unschuld beweisen können soll, muss er konkret darlegen, wie das Gericht diesen Entlastungszeugen erreichen kann. Der Bundesgerichtshof hat schon Zweifel, ob ein ordnungsgemäßer Beweisantrag vorlag, weil der Angeklagte unzureichende Angaben zur Erreichbarkeit des Zeugen gemacht hatte. Jedenfalls seien nach mehrmonatiger Fahndung die Mittel ihn zu finden ausgeschöpft.

Drogenhandel über einen Encro-Chat-Account

In einem strafrechtlichen Verfahren wegen Betäubungsmittelhandel, in dem die Modalitäten über ein sogenanntes Encro-Chat-Handy verabredet wurden, behauptete der Angeklagte am letzten von neun Verhandlungstagen, der Account sei von einer anderen Person benutzt worden. Er beantragte die Ladung eines Zeugen, der wegen der gleichen Straftaten zurzeit per internationalem Haftbefehl gesucht wurde. Dieser habe von dem Account-Nutzer Drogen bezogen und könne bezeugen, dass dieser nicht mit ihm identisch sei. Dessen Anwalt habe eine Ladungsempfangsvollmacht, so dass man ihm für den Zeugen eine Ladung zukommen lassen könne. Das Landgericht Hannover lehnte ab, der Zeuge sei unerreichbar. Die Richter verurteilten den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten. Der Mann wandte sich zum Bundesgerichtshof – ohne Erfolg.

Unerreichbarkeitsprüfung unmöglich

Der BGH bestätigte die Hannoveraner Entscheidung. Nach seiner Ansicht ist sogar zweifelhaft, ob es sich um einen ordnungsgemäßen Beweisantrag gehandelt hat, der nach § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO beschieden werden konnte. Dem Tatgericht sei die Prüfung, ob der Zeuge erreichbar oder unerreichbar sei, hier wohl verschlossen gewesen. Ein nur pauschaler Hinweis auf eine Ladungsvollmacht des Rechtsanwalts ermögliche dem Gericht keine Prüfung der Erreichbarkeit des Zeugen. Ohne nähere Angaben zum Umfang der Vollmacht, dem Zeitpunkt ihrer Erteilung und wie sich der Kontakt des Anwalts zu seinem Mandanten ausgestalte, sei regelmäßig eine sinnvolle Prüfung der Unerreichbarkeit vereitelt.

Zeuge ist unerreichbar

Der 6. Strafsenat ist aber mit der Vorinstanz einer Meinung, dass der Zeuge unerreichbar war. Der Sachaufklärungspflicht nach § 244 StPO sei vollauf genügt worden, denn das Gericht habe den Ladungsversuch von vornherein für aussichtslos halten dürfen. Mit einer länger als fünfmonatigen ergebnislosen internationalen Fahndung sei das effektivste Mittel der Aufenthaltsermittlung ausgeschöpft worden. Bei dieser Ungewissheit habe das Gericht trotz der immensen Bedeutung der Sache nicht abwarten müssen, ob einer solchen Ladung noch Folge geleistet würde oder nicht.

BGH, Beschluss vom 01.11.2022 - 6 StR 219/22

Redaktion beck-aktuell, 13. Februar 2023.