Umfassende Prüfung der angeklagten Tat

Ein Strafgericht muss den Sachverhalt, den es in der Hauptverhandlung ermittelt hat, auf alle in Betracht kommenden Straftatbestände überprüfen. Die rechtliche Würdigung der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift ist dabei ein Indiz, bindet das Gericht aber nicht. Das hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 30.09.2020 entschieden.

Ein Anwalt als mutmaßlicher Betrüger

Ein Rechtsanwalt hatte 2012 in der Schweiz ein Treuhandkonto für eine S.-AG eingerichtet. Ein Jahr später schloss die Aktiengesellschaft einen Darlehensvertrag mit einer S. K.-GmbH über sechs Millionen Euro. Zur Absicherung sollte die GmbH zunächst 900.000 Euro auf das Treuhandkonto zahlen. Der Angeklagte bestätigte der Darlehensnehmerin, dass er als treuhänderischer Verwalter die geleistete Summe bis zum 30.06.2013 wieder an sie zurücküberweisen werde. Nach Eingang der Summe kehrte er die "Sicherheit" an vier verschiedene Gesellschaften aus. Der Darlehensvertrag wurde nicht erfüllt und die Sicherungssumme nicht zurückgezahlt. In der Hauptverhandlung war der Treuhänder zwar hinsichtlich weiterer Betrugstaten geständig, er schwieg aber zum obigen Sachverhalt. Das Landgericht Berlin sprach ihn vom angeklagten Vorwurf der Untreue zum Nachteil der S. K.-GmbH frei, weil er ihr gegenüber keine Vermögensbetreuungspflicht gehabt habe. Dagegen wandte sich die Staatsanwaltschaft mit der Revision zum Bundesgerichtshof - mit Erfolg.

Prüfung der Strafbarkeit wegen Betrugs fehlte

Das Landgericht hätte den Sachverhalt dem BGH zufolge nicht nur auf die angeklagte Untreue nach § 266 StGB prüfen müssen, sondern auf alle Straftatbestände, die infrage kommen: Nach dem vom Landgericht ermittelten Sachverhalt wäre auch ein Betrug zum Nachteil der S. K.-GmbH in Betracht gekommen - sei es als Mittäter oder als Gehilfe. Zwar sei die Haupttat mit Eingang der 900.000 Euro bereits vollendet gewesen, aber im Rahmen der sukzessiven Täterschaft sei auch eine Beteiligung zwischen Vollendung und Beendigung der Tat möglich. Die Karlsruher Richter hoben das Urteil soweit auf und verwiesen es an eine andere Kammer des LG Berlin zurück.

Kognitionspflicht nach § 264 StPO

Nach § 264 StPO ist der sich in der Hauptverhandlung ergebende Sachverhalt Gegenstand der Urteilsfindung - die rechtliche Würdigung der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift spielt demgegenüber keine Rolle, erklärte der 5. Strafsenat. Eine als Untreue angeklagte Tat könne deshalb zum Beispiel auch als Betrug verurteilt werden. Die Kognitionspflicht nach § 264 StPO bezeichne die Pflicht des erkennenden Gerichts, den Unrechtsgehalt der Tat vollständig auszuschöpfen.

BGH, Urteil vom 30.09.2020 - 5 StR 99/20

Redaktion beck-aktuell, 16. Oktober 2020.