Trotz Lockdown Strafprozesse besuchen
Lorem Ipsum
© Семен Саливанчук / stock.adobe.com

Auch während einer coronabedingten "Ausgangssperre" können Zuschauer an Hauptverhandlungen teilnehmen. Die Aufgabe der Öffentlichkeit, die Gerichte zu kontrollieren, ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs so elementar, dass sie als wichtiger Grund im Sinne der Corona-Regeln anzuerkennen ist.

Flucht vor der Polizei

Nach den Feststellungen des BGH fuhr ein Mann im Dezember 2018 mit einem Auto, aber ohne Fahrerlaubnis auf öffentlichen Straßen. Als er in eine Verkehrskontrolle geriet, flüchtete er mit überhöhter Geschwindigkeit. Er kollidierte mit anderen – teils parkenden, teils fahrenden – Wagen, verletzte Menschen und verursachte einen nicht unerheblichen Schaden. 2006 hatte er einen Arbeitsunfall erlitten, der zu einer organischen Persönlichkeitsstörung führte, die seine Steuerungsfähigkeit erheblich verminderte. Er war jedoch auch vorher bereits durch Gewaltdelikte aufgefallen. Das Landgericht Chemnitz verurteilte ihn am 31.03.2020 unter anderem wegen dieser Tat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und zehn Monaten. Dagegen wehrte er sich vor dem BGH – mit Erfolg.

Gerichtsöffentlichkeit trotz Corona

Der Angeklagte rügte, dass durch die Allgemeinverfügung des Landes Sachsen zum ersten Lockdown die Öffentlichkeit faktisch ausgeschlossen worden sei (Verstoß gegen § 169 GVG). Nach dieser Anordnung sei der Besuch der Hauptverhandlung untersagt worden, weil die Bürger ihre Wohnung nur aus einem wichtigen Grund hätten verlassen dürfen. Dieser Sichtweise tritt der BGH entschieden entgegen: Der Besuch einer Gerichtsverhandlung sei ein triftiger Grund. Die Teilnahme als Zuhörer sei ein unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür, die Wahrnehmung der Kontrolle des Gerichts ist daher laut den Bundesrichtern als (unbenannter) triftiger Grund im Sinne der Corona-Verfügung anzuerkennen.

BGH will keine Rosinen picken

Der BGH hob das Urteil aber auf, weil es zahlreiche Subsumtionsfehler enthielt: So seien die Taten entgegen § 267 Abs. 1 und 3 StPO noch nicht einmal den einzelnen Delikten zugeordnet worden. Er lehne es ab, sich  die Tatbestände selbst aus den Feststellungen heraussuchen zu müssen. Zu den subjektiven Tatbeständen habe das Urteil gar keine Feststellungen enthalten, obwohl der Angeklagte die Vorsatztaten bestritten habe. Das LG habe auch Fragen der Tateinheit und -mehrheit falsch bewertet. Da die Feststellungen keine abschließende Bewertung zuließen, wurde das Verfahren zurückverwiesen.

Prüfung der Schuldunfähigkeit – Anleitung

Der 4. Strafsenat gibt in diesem Urteil ein Schema zur Hand, mit dessen Hilfe man die Schuldfähigkeit eines Täters prüft. Er hebt hervor, dass bei jemandem, der bereits vor der krankheitsbedingten Steuerungsunfähigkeit Gewaltdelikte begangen hat, auch genau herausgearbeitet werden müsse, warum die gegenständlichen Taten nun auf die Erkrankung zurückzuführen seien.

BGH, Beschluss vom 17.11.2020 - 4 StR 390/20

Redaktion beck-aktuell, 13. Januar 2021.