Sicherungsverfahren setzt keine Vernehmungsfähigkeit voraus

Die Vernehmungsfähigkeit eines Beschuldigten ist keine Voraussetzung für die Durchführung des Sicherungsverfahrens. Entgegen einer teilweise in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung sah der Bundesgerichtshof kein Verfahrenshindernis darin, dass ein Betroffener sich nicht artikulieren konnte. Es liege in der Natur des Sicherungsverfahrens, dass prozessuale Beteiligungsrechte des schuld- oder verhandlungsunfähigen Beschuldigten eingeschränkt sein könnten.

Unzusammenhängende Worte

Ein Beschuldigter wandte sich gegen die vom LG Kiel ausgesprochene Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB. Diese Maßregel hatte die Staatsanwaltschaft beantragt, da sie davon ausging, dass er schuld- und/oder verhandlungsunfähig war und somit gegen ihn kein normales Strafverfahren durchgeführt werden könnte. In der Verhandlung war der Mann zunächst noch anwesend und hatte Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Er konnte aber keine zusammenhängenden Sätze bilden, war akustisch kaum zu verstehen und das, was man verstehen konnte, ergab keinen Sinn. Das Landgericht kam nach Anhörung eines Sachverständigen zu dem Schluss, dass weder Verhandlungs- noch Vernehmungsfähigkeit vorlag. Die Verteidigung rügte beim BGH das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses: Gegen jemanden, der sich nicht verteidigen könne, dürfe auch keine Maßregel verhängt werden. Die Bundesrichter sahen das anders.

Sicherungsverfahren unabhängig von psychischer Verfassung

Über die bisher schon entschiedene Frage des Sicherungsverfahrens gegen einen verhandlungsunfähigen Beschuldigten hinaus stellten die Leipziger Richter klar: Das Verfahren kann unabhängig vom psychischen Zustand des Betroffenen durchgeführt werden. Dessen Ziel sei der Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Tätern, auch wenn aufgrund von Beeinträchtigungen ein Strafverfahren gegen sie ausscheide (§ 413 ff. StPO, § 71 Abs. 1 StGB). Im Verfahren angelegt – und vom Gesetzgeber bewusst hingenommen – sei eine mögliche Einschränkung der Beteiligungsrechte gegenüber einem regulären Strafverfahren. Etwas anderes ergibt sich nach Ansicht des 5. Strafsenats auch nicht aus § 415 Abs. 2 und 3 StPO, wonach der Beschuldigte vernommen werden muss, wenn in seiner Abwesenheit verhandelt werden soll: Dies garantiere lediglich die Möglichkeit einer Äußerung, setze aber nicht die Fähigkeit voraus, sinnvoll von diesem Recht Gebrauch machen zu können.

BGH, Beschluss vom 02.02.2022 - 5 StR 390/21

Redaktion beck-aktuell; Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 2. Juni 2022.