Rolle gründlich missverstanden: Berufungsgericht in Zivilsachen muss auch Tatsachen überprüfen

Die grundsätzliche Bindung an die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz bedeutet dem BGH zufolge nicht, dass im Berufungsverfahren nur eine reine Rechtskontrolle stattfindet. Der Sachverhalt müsse auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft werden und im Zweifel neue Beweise erhoben werden. 

Eine Vermieterin wollte ihr Grundstück verkaufen. Nachdem die Mieter aber die Begehung ihres Heims mit einem Makler verweigerten, nahm sie davon Abstand und kündigte stattdessen das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs: Ihre Söhne sollten einziehen. Vor dem Amtsgericht bestritten die Mieter den Eigenbedarf; sie witterten eine noch bestehende Verkaufsabsicht. Daher hörte das AG die Söhne als Zeugen an und verurteilte die Mieter anschließend zur Räumung. Die Berufungsbegründung überzeugte das LG München II nicht, vielmehr hieß es schlicht, die Mieter hätten darin "lediglich ihre Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Amtsgerichts" gesetzt. Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück.

BGH: Unterschied zwischen Berufung und Revision verkannt

Die Entscheidung zeige deutlich, so der VIII. Zivilsenat, dass das LG das erstinstanzliche Urteil entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO einer reinen Rechtskontrolle unterzogen hat. Die Frage, ob die Feststellungen im Hinblick auf die Frage, ob Vermieterin nun Verkaufs- oder Eigennutzungsabsichten hege, richtig gewesen seien, sei überhaupt nicht geprüft worden – das LG hat dem BGH zufolge noch nicht einmal erwogen, ob sich unter Berücksichtigung der Einwendungen Zweifel daran ergeben könnten. Das sei aber angezeigt gewesen, weil diesbezüglich beispielsweise die Angaben der Söhne zur geplanten – angeblich ausführlich besprochenen – Aufteilung der Räume denen der Vermieterin widersprochen hätten. 

BGH, Beschluss vom 08.08.2023 - VIII ZR 20/23

Redaktion beck-aktuell, rw, 20. September 2023.