Reichweite des Vertrauensgrundsatzes bei Fahrbahn querendem Fußgänger

Hat ein aus Sicht des Autofahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Straße bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Fahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Passant werde auf der Mittellinie stehen bleiben und ihn vorbeilassen. Maßgeblich ist laut Bundesgerichtshof, ob der Fahrer an dessen verkehrsgerechtem Verhalten zweifeln musste. Dies sei der Fall, wenn der Fußgänger die Brücke rennend überquere, ohne anzuhalten.

Fußgänger kollidiert mit Auto auf Brückenfahrbahn

Ein Fußgänger nahm einen Autofahrer sowie dessen Haftpflichtversicherung unter Berücksichtigung eines ihn treffenden Mitverschuldens in Höhe von 50% auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das Geschehen ereignete sich am 07.06.2014 gegen 23 Uhr auf der Fahrbahn einer Brücke, als der Passant diese gerade von der linken Gehwegseite aus überquerte und mit dem Auto des beklagten Fahrers auf der rechten Fahrbahn kollidierte. Dabei wurde der Kläger erheblich verletzt. Das Unfallopfer behauptete, er habe die Fahrbahn der Brücke mit "normaler" Geschwindigkeit überquert. Der Autofahrer habe erst gebremst, nachdem er mit ihm kollidiert sei. Das bestritten die Beklagten. Vielmehr habe der Kläger die Fahrbahn rennend und unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten überquert.

KG: Kein Verschulden des Fahrzeugführers

Die Schadensersatzklage scheiterte sowohl beim LG Berlin als auch beim dortigen Kammergericht. Der Kläger habe unter Nichteinhaltung seiner aus § 25 Abs. 3 StVO resultierenden Sorgfaltspflichten die Fahrbahn auf der Brücke überquert, ohne auf den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr zu achten und dem Fahrzeug den Vorrang einzuräumen. Zu Recht habe das LG ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführers verneint. Er brauche nämlich nicht damit zu rechnen, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetze, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe sei. Eine Einschränkung dieses Vertrauensgrundsatzes sei nicht zu erkennen. Die Revision des Klägers beim BGH hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung.

Vertrauensgrundsatz überdehnt

Dem VI. Zivilsenat zufolge kann mit der Begründung des KG ein unfallursächliches Verschulden des Autofahrers nicht verneint werden. Es sei falsch anzunehmen, dass dessen Reaktionspflicht erst zu dem Zeitpunkt entstanden sei, als der Kläger den Mittelstreifen überquerte und in seine Fahrbahn geriet. Damit habe das KG den Vertrauensgrundsatz überdehnt, der jedenfalls nicht zugunsten des Fahrers herangezogen werden könne. Der Fahrer habe nicht darauf vertrauen dürfen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehen bleiben und ihn vorbeilassen. Denn auf Grundlage der Beweisaufnahme des KG dürfe davon ausgegangen werden, dass der Kläger die Brücke rennend überquert habe, ohne anzuhalten. Insoweit hätte der Autofahrer am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zweifeln müssen. Es müsse geklärt werden, ob die Sicht auf den Fußgänger durch ein entgegenkommendes Fahrzeug tatsächlich eingeschränkt gewesen sei oder der Fahrer bei ordnungsgemäßer Beobachtung der gesamten Straßenfläche das Verhalten des Klägers ab dem Betreten der Fahrbahn habe wahrnehmen können.

BGH, Urteil vom 04.04.2023 - VI ZR 11/21

Redaktion beck-aktuell, 5. Mai 2023.