Einsatz eines Prognoseinstruments rechtfertigt keine Pflichtverteidigung im Vollstreckungsverfahren

Eine Beiordnung im Vollstreckungsverfahren kann bei entsprechender Bedeutung des Falls für den Verurteilten oder besonderer Komplexität der Sach- und Rechtslage erfolgen. Weder die Zuständigkeit des OLG für Reststrafenaussetzung noch der Einsatz eines strukturierten Programms zur Planung des weiteren Vollzugs durch die Haftanstalt führen nach Ansicht des Bundesgerichtshofs allein zur Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung.

Diagnostikverfahren "VERA-2R"

Im Verfahren über die Aussetzung seiner Reststrafe zur Bewährung hatte ein Verurteilter Unterstützung durch einen Verteidiger gesucht. Der Gefangene war wegen Vorbereitung eines Anschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Zwei Drittel der Strafe waren im März 2022 verbüßt; Endstrafentermin war Dezember 2023. Nachdem der Generalbundesanwalt und die JVA die vorzeitige Entlassung nicht befürwortet hatten, beantragte der Anwalt seine Beiordnung: Es handele sich um einen Fall notwendiger Verteidigung, da hier nach § 8 des Berliner Strafvollzugsgesetzes für die weitere Vollzugsplanung ein wissenschaftliches Diagnostikverfahren namens Violent Extremism Risk Assessment Version 2 Revised ("VERA-2R" ) eingesetzt werde. Das KG lehnte den Antrag ab. Die Stellungnahmen sprächen alle gegen die Aussetzung und die Einholung eines Gutachtens sei nicht beabsichtigt. Auch der Einsatz des Prognoseinstruments "VERA-2R" verleihe dem Fall keine besondere Schwierigkeit. Die Beschwerde hatte beim Bundesgerichtshof keinen Erfolg.

Beiordnung bei Besonderheiten

Der 3. Strafsenat stellte allerdings zunächst klar, dass eine Beiordnung im Vollstreckungsverfahren nach § 140 Abs. 2 StPO analog weiter grundsätzlich möglich ist. Auch wenn dieser Verfahrensabschnitt nach der Reform der notwendigen Verteidigung weiter nicht erwähnt werde, spreche dies nicht gegen eine entsprechende Anwendung. Dann müsse der Fall aber Besonderheiten bieten, wie etwa eine besondere Schwere der Vollstreckungssache für den Verurteilten, Schwierigkeiten in der Sach- und Rechtslage oder ein Inhaftierter, der seine Rechte nicht selbst sinnvoll wahrnehmen könne. Die weitere Zuständigkeit des OLG auch für die Vollstreckung bei einer Staatsschutzsache ändere hieran nichts. Gleiches gelte für den Einsatz des Diagnosetools, diese sei primär auf die künftige Vollzugsplanung und Behandlung ausgerichtet. Eine Vergleichbarkeit mit einem kriminologischen Gutachten nach § 454 Abs. 2 StPO besteht nach Ansicht des Gerichts nicht – auch wenn die Untersuchung wissenschaftlichen Leitlinien gefolgt und von der Anstaltspsychologin erstellt worden sei.

BGH, Beschluss vom 29.06.2022 - StB 26/22

Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 21. Juli 2022.