BGH: Partei hat Anspruch darauf dem Sachverständigen Fragen stellen zu können

ZPO §§ 411 III, 543 II 1 Nr. 2, 544; GG Art. 103

Zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO hat eine Partei nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs einen Anspruch darauf, das sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann. Davon, dass der Tatrichter der Pflicht zur Anhörung ausnahmsweise enthoben wäre, weil der Antrag auf Anhörung verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt wurde, könne keine Rede sein, wenn der Kläger in Bezug auf ein vom Berufungsgericht veranlasstes Ergänzungsgutachten rechtzeitig Einwendungen vorgetragen, die Anhörung des Sachverständigen beantragt und in einem Schriftsatz vor dem Verkündungstermin nochmals auf die Notwendigkeit einer Erläuterung durch den Sachverständigen hingewiesen habe. Dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Anhörung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, sei insbesondere dann nicht auszuschließen, wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht zu den Widersprüchen zwischen dem veranlassten Ergänzungsgutachten und den Ausführungen des erstinstanzlichen Sachverständigen verhalten habe.

BGH, Beschluss vom 10.07.2018 - VI ZR 580/15 (OLG Schleswig), BeckRS 2018, 18775

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 17/2018 vom 30.08.2018

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Sachverhalt

Der Kläger war am 21.08.2005 mit dem Fahrrad unterwegs. Er wurde von dem in der Zwischenzeit verstorbenen Fahrer des Beklagten-Pkw überholt, der anschließend direkt vor dem Kläger nach rechts in ein Grundstück einbog. Der Kläger wurde dadurch zu einer Vollbremsung zur Vermeidung eines Zusammenstoßes gezwungen. Dabei stürzte er und verletzte sich schwer.

Der Kläger, der seinerzeit selbstständig war, behauptet, dass seine wirtschaftliche Existenz durch den Unfall vernichtet wurde. Er verlangt Schadenersatz.

Das Landgericht hatte nach Erholung eines orthopädischen und eines psychatrischen Gutachtens ein Grund- und Teilurteil erlassen und die Höhe des Verdienstausfallsschadens dem Schlussurteil vorbehalten. Das Oberlandesgericht hatte eine ergänzende Beweiserhebung durch Erholung eines neuen psychatrischen Gutachtens angeordnet und dann das landgerichtliche Urteil dahin geändert, dass lediglich Verdienstausfallschaden für die Jahre 2005 und 2006 gerechtfertigt sei. Dem Kläger wurde zudem ein Schmerzensgeld von – nur – 15.000 EUR zugesprochen. Die weitergehende Klage wurde abgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde. Er habe erfolglos beantragt, den Sachverständigen in zweiter Instanz anzuhören. Auch habe das Berufungsgericht sich nicht damit auseinander gesetzt, dass ein Privatsachverständigengutachten des Klägers dem gerichtlichen Sachverständigen widerspricht.

Rechtliche Wertung

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Das Urteil des Oberlandesgerichts wurde vom BGH aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der rechtliche Ansatz des Berufungsgerichts sei zutreffend. Der Schädiger habe auch für eine psychische Fehlverarbeitung der Wirkungen eines Unfallgeschehens einzustehen. Ein solcher Anspruch sei nicht deshalb in Frage gestellt, weil der Geschädigte aufgrund seiner besonderen körperlichen oder seelischen Verfassung besonders «schadensanfällig» sei. Ein Schädiger habe kein Anrecht darauf so gestellt zu werden, als habe er einen Gesunden verletzt.

Ein Zurechnungszusammenhang sei erst dann zu verneinen, wenn der Geschädigte den Unfall in neurotischem Streben nach Versorgung zum Anlass nehme, um Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen. Eine Zurechnung könne auch dann ausscheiden, wenn das Schadenereignis eine Bagatelle darstelle oder wenn sicher sei, dass der durch den Unfall ausgelöste Schaden wegen der körperlichen und seelischen Konstitution des Verletzten auch ohne Unfall früher oder später eingetreten wäre.

Zurecht mache die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, dass der Sachverständige aufgrund Antrags des Klägers zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens hätte geladen werden müssen (§ 411 Abs. 3 und 4 ZPO). Von dieser Pflicht sei der Tatrichter nur ausnahmsweise entbunden, etwa dann, wenn der Antrag auf Erläuterung verspätet gestellt werde oder rechtsmissbräuchlich sei. Davon könne aber hier keine Rede sein, weil zugleich mit dem Antrag Fragen an den Sachverständigen gestellt wurden. In einem Schriftsatz vom 03.06. waren die Ausführungen des Klägers enthalten und Termin zur mündlichen Verhandlung war auf den 14.07. bestimmt.

Schließlich habe sich das Gericht mit dem privat erholten Sachverständigengutachten auseinandersetzen müssen. Der Tatrichter dürfe den Streit von Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende Begründung einem von ihnen den Vorrang gibt.

Praxishinweis

Die Frist, um einen Sachverständigen laden zu lassen, muss so gewählt werden, dass das Gericht – wenigstens theoretisch – in die Lage versetzt wird, den Sachverständigen auch laden zu können.

Im Übrigen – und dies stellt der BGH wieder einmal klar – kommt es nicht darauf an, ob dem Gericht das Sachverständigengutachten einleuchtend und umfassend erscheint, sondern es ist schlichtweg das Recht einer Partei, dem Sachverständigen Auge in Auge gegenüber zu stehen und Fragen zu stellen. Die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ist zu begrüßen und sie ist wesentlich. 

Redaktion beck-aktuell, 3. September 2018.

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