EuGH: HOAI verstößt gegen Europarecht
Der Europäische Gerichtshof hatte in einem von der Europäischen Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren durch Urteil vom 04.07.2019 (NVwZ 2019, 1120) entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG (Dienstleistungsrichtlinie) verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat. In der Instanzrechtsprechung sowie im Schrifttum war daraufhin ein Meinungsstreit darüber entstanden, ob die betreffenden Vorschriften der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfalten, dass die der Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI, wonach die in dieser Honorarordnung statuierten Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen grundsätzlich verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind.
EuGH: Unionsrecht steht Anwendbarkeit nicht entgegen
Der BGH hat daraufhin in dem Revisionsverfahren, dem die HOAI in der Fassung aus dem Jahr 2013 zugrunde liegt, dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen mehrere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit des verbindlichen Preisrechts der HOAI (2013) vorgelegt (NJW 2020, 2328). Der EuGH hat darauf entschieden, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen die in Rede stehenden Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen (NJW 2022, 927). Es bestehe aber zum einen die Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen. Zum anderen bleibe das Recht der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei unbeschadet, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen.
Ingenieur verlangt auf Grundlage der HOAI Restvergütung
Der BGH hat nun in dem zugrunde liegenden Revisionsverfahren eine abschließende Entscheidung getroffen. In dem zugrunde liegenden Fall verlangt der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, von der Beklagten die Zahlung restlicher Vergütung aufgrund eines 2016 abgeschlossenen Ingenieurvertrages, in dem die Parteien für die vom Kläger zu erbringenden Ingenieurleistungen bei einem Bauvorhaben der Beklagten ein Pauschalhonorar in Höhe von 55.025 Euro vereinbart hatten. Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der HOAI (2013) ab. Mit der Klage hat er eine noch offene Restforderung in Höhe von 102.934,59 Euro brutto geltend gemacht. Das Landgericht hatte die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 Euro verurteilt (BeckRS 2017, 157318). Auf die Berufung der Beklagten hatte das Oberlandesgericht die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 Euro verurteilt (NJW 2020, 247). Mit der vom OLG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
BGH: Ingenieur kann Mindestsatzhonorar nach HOAI verlangen
Der BGH hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen und verweist auf seinen Vorlagebeschluss an den EuGH. Danach seien nach nationalem Recht die Vorschriften der HOAI, die das verbindliche Preisrecht (hier: die Mindestsätze) regeln, unbeschadet des EuGH-Urteils vom 04.07.2019 (NVwZ 2019, 1120) anzuwenden und führten zu einem Honoraranspruch des Klägers in der vom OLG zuerkannten Höhe. Nach den Feststellungen des OLG sei die zwischen den Parteien im Ingenieurvertrag getroffene Pauschalhonorarvereinbarung nach nationalem Recht unwirksam, weil sie das sich bei Anwendung der Mindestsätze ergebende Honorar unterschreitet, ohne dass ein Ausnahmefall gemäß § 7 Abs. 3 HOAI vorliegt. Der Kläger könne danach von der Beklagten das Mindestsatzhonorar, dessen Berechnung der Höhe nach nicht angegriffen ist, abzüglich bereits geleisteter Zahlungen verlangen.
Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung greift nicht
Die hiergegen gerichteten Einwände der Beklagten, die sich unter anderem auf einen Verstoß des Klägers gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB berufen hat, greifen laut BGH nicht durch. Er verweist insoweit auf seine Ausführungen im Vorlagebeschluss (NJW 2020, 2328), von denen abzuweichen kein Anlass bestehe. Ergänzend hierzu weist der BGH darauf hingewiesen, dass die Geltendmachung eines Anspruchs durch eine Partei insbesondere nicht deshalb gemäß § 242 BGB als treuwidrig und damit unzulässig bewertet werden könne, weil die nationale Rechtsvorschrift, aus der der Anspruch hergeleitet wird, gegen eine EU-Richtlinie verstößt. Eine Partei könne sich vielmehr grundsätzlich auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese weiterhin gültig und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist. Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung sei nur dann einschlägig, wenn die Anwendung einer Rechtsvorschrift einen im Einzelfall bestehenden Interessenkonflikt ausnahmsweise nicht hinreichend zu erfassen vermag und für einen Beteiligten ein unzumutbares unbilliges Ergebnis zur Folge hätte. Es diene jedoch nicht dazu, eine vom nationalen Gesetzgeber mit einer Rechtsvorschrift getroffene Wertung generell durch eine andere Regelung zu ersetzen.
Keine richtlinienkonforme Auslegung des § 7 HOAI
Eine richtlinienkonforme Auslegung des § 7 HOAI unter Berücksichtigung der im Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Entscheidung des EuGH (NVwZ 2019, 1120) führe, wie ebenfalls im Vorlagebeschluss im Einzelnen ausgeführt, gleichfalls nicht zum Erfolg der Revision der Beklagten, so der BGH weiter. § 7 HOAI könne nicht richtlinienkonform dahin ausgelegt werden, dass die Mindestsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht mehr verbindlich sind und daher einer die Mindestsätze unterschreitenden Honorarvereinbarung nicht entgegenstehen.
Dienstleistungsrichtlinie wirkt nicht unmittelbar zwischen Privatpersonen
Nach dem nunmehr im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des EuGH (NJW 2022, 927) stehe fest, dass der BGH im Streitfall nicht aufgrund Unionsrechts verpflichtet ist, das verbindliche Mindestsatzrecht der HOAI unangewendet zu lassen. Der EuGH habe insoweit festgestellt, dass der Dienstleistungsrichtlinie eine unmittelbare Wirkung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – wie hier – nicht zukommt. Die betreffende Richtlinie stehe der Anwendung der verbindlichen Mindestsätze daher nicht entgegen. Der EuGH habe ferner ausgeführt, dass die zuständigen nationalen Gerichte nicht allein aufgrund eines im Vertragsverletzungsverfahren erlassenen Urteils verpflichtet sind, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen.
Sonstiges EU-Recht greift mangels grenzüberschreitenden Sachverhalts nicht
Europäisches Primärrecht in Form der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts stünden der Anwendung der in der HOAI verbindlich geregelten Mindestsätze im Streitfall ebenfalls nicht entgegen, so der BGH weiter. Der EuGH habe insoweit klargestellt, dass die Bestimmungen des AEUV über die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Kapitalverkehr auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale nicht über die Grenzen eines Mitgliedsstaates hinausweisen, grundsätzlich keine Anwendung finden. Da der vorliegende Rechtsstreit durch Merkmale charakterisiert sei, die sämtlich nicht über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinauswiesen, könne ohne die Angabe eines Anknüpfungspunktes bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten durch das vorlegende nationale Gericht nicht davon ausgegangen werden, dass das entsprechende Ersuchen um Auslegung für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich sei. Wenngleich der EuGH die diesbezügliche Vorlagefrage des BGH deshalb als unzulässig beschieden hat, stehe danach fest, dass die betreffenden Grundfreiheiten oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts der Anwendung der in der HOAI verbindlich geregelten Mindestsätze im Streitfall nicht entgegenstehen. Über die sich bereits aus dem Vorabentscheidungsersuchen (NJW 2020, 2328) ergebenden Ausführungen hinaus seien keine Anknüpfungspunkte bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts festzustellen. Veranlassung für ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH sieht der BGH daher nicht.