BGH: Leidensbedingter Berufswechsel hindert nicht eine spätere Anknüpfung an die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit

BB-BUZ § 2 I

Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs bleibt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit auch dann die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit maßgebend, wenn der Versicherte nach dem erstmaligen Eintritt des Versicherungsfalles zunächst einer leidensbedingt eingeschränkten Tätigkeit nachging. Ferner begründe bei Vereinbarung einer konkreten Verweisungsmöglichkeit die Beendigung der Vergleichstätigkeit erneut eine Leistungspflicht des Versicherers, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen unverändert außerstande ist, der in gesunden Tagen ausgeübten Tätigkeit nachzugehen.

BGH, Urteil vom 14.12.2016 - IV ZR 527/15 (OLG Schleswig), BeckRS 2016, 109928

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 1/2017 vom 12.01.2017

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Sachverhalt

Die Parteien streiten, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem klagenden HNO-Arzt weiterhin Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) zu erbringen.

In § 2 Abs. 1 der dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Besonderen Bedingungen (BB-BUZ) heißt es auszugsweise: «Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens drei Jahre außerstande sein wird, seinen Beruf auszuüben und er auch keine andere Tätigkeit ausübt, die seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.»

Hinsichtlich des Nachprüfungsverfahrens regelt § 6 BB-BUZ unter anderem: «Dabei können wir erneut prüfen, ob der Versicherte eine andere Tätigkeit im Sinne von § 2 ausübt, wobei auch Tätigkeiten zu berücksichtigen sind, die der Versicherte aufgrund neu erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten ausübt.»

Der Kläger war seit Januar 2000 zunächst in einer Gemeinschaftspraxis und ab Ende 2002 in einer Einzelpraxis selbstständig tätig. Ab dem Jahr 2000 kam es zu einer Arthrose des rechten Schultergelenks. Seit 2005 führte der Kläger daher keine chirurgischen Eingriffe und Operationen mehr durch. Er stellte im Februar 2006 unter anderem für kleinere ambulante Eingriffe eine Assistenzärztin ein. Nach Stellung eines Leistungsantrags im Jahr 2006 erkannte die Beklagte ihre Leistungspflicht ab April 2006 an. Ab Mai 2006 erbrachte sie die Leistungen.

Im August 2010 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass seine Praxis in ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) übergegangen und er seitdem dort angestellt sei. Zudem war er zum ärztlichen Leiter des MVZ bestellt worden. Daraufhin kündigte die Beklagte an, ihre Leistungen zum 31.05.2011 einzustellen, da keine Berufsunfähigkeit mehr vorliege. Die vom Kläger seit August 2010 ausgeübte Tätigkeit wahre seine bisherige Lebensstellung.

Die Tätigkeit des Klägers im MVZ endete unstreitig zum 31.03.2013 aufgrund einer Aufhebungsvereinbarung. Seit Mai 2013 ist er auf Honorarbasis als Praxisvertreter tätig.

Das Landgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG Schleswig ihm Rentenleistungen ab April 2013 gewährt, die Beklagte zur Erstattung im Zeitraum von April 2013 bis November 2015 gezahlter Beiträge verurteilt und zudem festgestellt, dass der Kläger berufsunfähig sei und ab Dezember 2015 keine Beiträge zu zahlen habe.

Rechtliche Wertung

Die Revision der Beklagten blieb ohne Erfolg. Zwar sei die Annahme des OLG unzutreffend, dass die Beklagte wieder an das bei der Erstfeststellung der Berufsunfähigkeit erfolgte Anerkenntnis gebunden sei. Gleichwohl führe die Revision nicht zum Erfolg, da beim Kläger ab April 2013 die Voraussetzungen von Berufsunfähigkeit erneut vorliegen. Der versicherte Beruf des Klägers sei auch beim neuen Versicherungsfall die Tätigkeit eines selbstständigen HNO-Arztes, wie er ihn vor der Einschränkung ausübte.

Nach ständiger Rechtsprechung sei grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung maßgebend, so wie sie «in gesunden Tagen» ausgestaltet war. Es bedürfe keiner sogenannten Tätigkeitsklausel, um den versicherten Beruf in dieser Weise zu bestimmen.

Die eingeschränkte ärztliche Tätigkeit, die der Kläger in der Praxis und danach im MVZ ausübte, wurde nach Auffassung des BGH nicht zum versicherten Beruf des Klägers. Denn wenn ein Berufswechsel vor Eintritt des Versicherungsfalles allein leidensbedingt war, bleibe Ausgangspunkt für die Beurteilung der vor diesem Wechsel ausgeübte Beruf. Dies gelte auch, wenn der Versicherte nach dem erstmaligen Versicherungsfall zunächst weiterhin eine leidensbedingt eingeschränkte Tätigkeit ausgeübt hat und nach deren Beendigung erneut Ansprüche geltend macht. Dies ergebe die Auslegung von § 2 Abs. 1 BB -BUZ.

Der Versicherungsnehmer könne § 2 Abs. 1 BB-BUZ nicht entnehmen, dass ein verschlechterter gesundheitlicher Zustand dann, wenn er schon einmal den Versicherungsfall ausgelöst hat, für die restliche Versicherungslaufzeit zum neuen Normalzustand werden soll, an dem künftig die Berufsunfähigkeit zu messen wäre. Sonst würde der Versicherungsschutz während der Versicherungsdauer zunehmend entwertet. Es sei für ihn nicht erkennbar, dass dieser Versicherungsschutz für seinen Beruf aus gesunden Tagen einer – konstruierten – zeitlichen Grenze unterliegen könnte.

Unbeachtlich sei, dass der Kläger nach dem ersten Versicherungsfall eine inzwischen beendete Tätigkeit im MVZ ausgeübt hat, auf die ihn die Beklagte verwiesen hat. Bei einer konkreten Verweisungsmöglichkeit begründe das Ende der Vergleichstätigkeit erneut eine Leistungspflicht, wenn der Versicherte unverändert zur Ausübung der früheren Tätigkeit außerstande ist. Es treffe daher nicht zu, dass sich bei Beendigung aus anderen als gesundheitlichen Gründen das versicherte Risiko nicht realisiert habe. Auf die Gründe für die Beendigung der Vergleichstätigkeit komme es mithin nicht an.

Die Beklagte könne den Kläger zudem mangels Wahrung der bisherigen Lebensstellung nicht auf seine seit Mai 2013 ausgeübte Tätigkeit als Praxisvertreter verweisen. Dieser Tätigkeit komme nicht die gleiche soziale Wertschätzung zu wie jener eines Facharztes mit eigener Praxis.

Praxishinweis

Mit vorliegendem Urteil erteilt der BGH der in der Literatur und Rechtsprechung zum Teil vertretenen Auffassung, dass bei einem leidensbedingten Berufswechsel, der eine gewisse Zeit zurückliegt, der aufgegebene Beruf nicht mehr als Anknüpfungsberuf für die Prüfung von Berufsunfähigkeit zugrunde zu legen sei (vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 3. Aufl. 2014, Kap. F Rn. 79: 3 Jahre; Benkel/Hirschberg, BUZ 2008, 2. Aufl. 2011, § 2 Rn. 49 und LG München I VersR 2004, 990: länger als 5 Jahre; differenzierend Beckmann/Matusche-Beckmann/Rixecker, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 46 Rn. 18 f.), eine deutliche Absage.

Darüber hinaus klärt der BGH, dass es bei einer konkreten Verweisung für die Beurteilung des Eintritts der Berufsunfähigkeit auf die Gründe für eine Beendigung der Vergleichstätigkeit nicht ankommt. Nach anderer Auffassung soll sich hingegen nicht das versicherte, sondern das marktmäßige Risiko realisiert haben, wenn der Arbeitsplatzverlust nicht auf gesundheitlichen Gründen beruht (Langheid/Wandt/Dörner, VVG, 2. Aufl. 2017, § 172 Rn. 178; Beckmann/Matusche-Beckmann/Rixecker, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 46 Rn. 142).

Redaktion beck-aktuell, 27. Januar 2017.

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