Kollision von Fahrstreifenwechsler und Anfahrendem

Ein "anderer Verkehrsteilnehmer" ist beim Fahrstreifenwechsel grundsätzlich nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, nicht aber der vom Fahrbahnrand Anfahrende. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 08.03.2022 ist dies mit dem Vorrang des fließenden Verkehrs zu begründen. Müsse der Fahrbahnwechsler auch auf anfahrende Wagen besonders achten, sei dieser nicht mehr gewährleistet.

Kollision mit ausparkendem Fahrzeug

Die Halterin eines Opel Vivaro (Klägerin) stieß mit einer anderen Autofahrerin zusammen, als sie gerade aus einer längs – rechtsseitig – zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf eine zweispurige Straße ausparkte. Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes war die Beklagte fast vollständig von der linken auf die rechte Fahrbahn gewechselt. Der Transporter ragte mit der linken Front in den rechten Fahrstreifen hinein und bewegte sich vorwärts. Das AG Düsseldorf gab der Klage auf Zahlung der Reparaturkosten für das Klägerfahrzeug, von Gutachterkosten sowie einer Kostenpauschale auf Grundlage einer Haftungsquote von 50 % teilweise statt. Das dortige LG bestätigte die Schadensteilung, ermäßigte aber die zu erstattenden Reparaturkosten in geringem Umfang. Die Opel-Fahrerin habe die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 StVO missachtet und die andere Autofahrerin habe durch ihren Spurwechsel gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Die Revision der Beklagten beim BGH hatte vorerst Erfolg (Az.: VI ZR 1308/20).

Besonders hohe Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden

Die Karlsruher Richter bemängelten die Annahme des LG, wonach die beklagte Autofahrerin den Unfall schuldhaft nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO mitverursacht habe. Danach dürfe ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist den Bundesrichtern zufolge aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende. Müsste der Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber Einfahrenden, dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber, so der BGH weiter. Dies wäre schwerlich mit dem sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs vereinbar. Denn der Vorrang des fließenden Verkehrs werde gerade mit den besonders hohen Sorgfaltsanforderungen des Einfahrenden begründet. Trotz des grundsätzlichen Vorrangs des fließenden Verkehrs habe aber auch dieser auf den Ein- oder Anfahrenden im Rahmen des § 1 StVO Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen. Der BGH kritisierte, das LG habe aus seinen Feststellungen zum Zusammenstoß nicht ohne Weiteres auf eine schuldhafte Verletzung einer Sorgfaltspflicht der Beklagten schließen können. Es sei offen, ob sie den Ausparkvorgang des Klägerfahrzeugs hätte erkennen und vom Fahrstreifenwechsel absehen oder diesen abbrechen können, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der BGH verwies die Sache daher an das LG zurück, um den genauen Unfallhergang zu überprüfen.

BGH, Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 1308/20

Redaktion beck-aktuell, 25. April 2022.

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