Keine Präklusion der Besetzungsrüge bei Rechtsmittelentscheidung nach Urteilsverkündung

Die Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts schließt den Besetzungseinwand in der Revision nur dann aus, wenn sie dem Rügeführer vor Urteilsverkündung bekanntgemacht wurde. Das gilt laut Bundesgerichtshof auch dann, wenn das Urteil auf einer Verständigung beruhte.

Das LG Kassel hatte unter anderem den Angeklagten - einen Zuhälter - wegen mehrerer Straftaten im Rotlichtmilieu zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und fünf Monaten verurteilt.

Die Zuständigkeit für das den Angeklagten betreffende Verfahren ging nach einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans zum 01.09.2021 von der dortigen 10. auf die 9. Strafkammer über. Dadurch sollten die 10. Strafkammer, aber auch die ansonsten für erstinstanzliche, allgemeine Straf- wie Schwurgerichtsverfahren zuständige 6. Strafkammer entlastet werden.

Die neue Besetzungsmitteilung durch die 9. Strafkammer wurde dem Verteidiger des Angeklagten am 03.09.2021 zugestellt. Dagegen erhob der Mann sieben Tage später eine Besetzungsrüge, eine Überlastung beider Kammern sei weder festgestellt noch dargelegt. Die 9. Große Strafkammer wies seinen Besetzungseinwand am 13.09.2021 zurück, legte die Sache dem OLG Frankfurt am Main als zuständiges Rechtsmittelgericht vor und setzte die Hauptverhandlung fort. In deren Verlauf kam es zu einer Verständigung nach § 257c StPO, am 28.09.2021 verkündete das LG das Urteil. Am selben Tag verwarf das OLG die Besetzungsrüge als unbegründet, die Entscheidung ging dem Verteidiger aber erst am 04.10.2021 zu.

Seine Revision gegen das Urteil begründete er unter anderem mit der Rüge, das LG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Der BGH entschied nun, dass der Angeklagte nicht gehindert war, diesen Einwand mit der Revision geltend zu machen.  

BGH: Beschluss des OLG präkludiert die Besetzungsrüge nicht

Nach § 338 Nr. 1, 2. Halbsatz Buchstabe b) StPO kann man eine Revision nicht mehr auf den Besetzungseinwand stützen, wenn das Rechtsmittelgericht schon über die Rüge nach § 222b StPO entschieden hat. Das aber sei, so der 2. Strafsenat, hier trotz der Entscheidung des OLG Frankfurt am Main noch nicht geschehen.

Denn der Beschluss des OLG sei dem Angeklagten jedenfalls nicht vor der Verkündung des Urteils bekanntgemacht worden. Eine Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erst nach Urteilsverkündung aber könne eine Präklusion nicht herbeiführen. Dass die Regelungen keine Frist enthielten, innerhalb derer das Rechtsmittelgericht entscheiden müsse, bedeute nicht, dass das Rechtsmittelgericht mit einer Entscheidung nach § 222b Abs. 3 StPO unbegrenzt eine Rügepräklusion herbeiführen könne. Vielmehr sei § 338 Nr. 1, 2. Halbsatz Buchst. b) StPO dahingehend auszulegen, dass die Revision auch dann auf die vorschriftswidrige Besetzung gestützt werden kann, wenn das Tatgericht ein Urteil fällt, bevor vom Rechtsmittelgericht eine Entscheidung über die Besetzungsrüge getroffen wurde.

Die Regelungen der §§ 222a, 222b StPO, § 338 Nr. 1 StPO sollten, so der Senat, zeitnah Rechtssicherheit über die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts schaffen und so vermeiden, dass eine Hauptverhandlung im Falle einer Besetzungsrüge, der das Tatgericht nicht abhilft, von Vornherein unter dem "Damoklesschwert" einer Aufhebung im Revisionsverfahren steht.

Auch zwischenzeitliche Verständigung führt nicht zur Präklusion

Dass der Angeklagte - noch vor der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über seinen Besetzungseinwand - einer Verständigung nach § 257c StPO zugestimmt habe, ändere daran nichts. Die Zustimmung zu einer Verständigung führe grundsätzlich nicht zum Verlust einzelner prozessualer Rechte. Auch in Bezug auf die Besetzungsrüge könne dieser Zustimmung nicht entnommen werden, dass der Angeklagte seine Auffassung, die Strafkammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, aufgeben wolle.

Auch in der Sache bekam der Angeklagte übrigens Recht: Der BGH kritisiert, dass der Beschluss des Landgerichts zur unterjährigen Änderung des Geschäftsverteilungsplans nicht ausreichend begründet habe, warum das Verfahren auf die 9. Strafkammer übertragen worden war.

BGH, Beschluss vom 17.01.2023 - 2 StR 87/22

Redaktion beck-aktuell, 13. Juli 2023.