Kein Tötungsvorsatz bei Vertrauen auf Rettung durch Dritte

Vertraut ein Täter darauf, dass Dritte das engmaschig beaufsichtigte Opfer retten werden, so liegt auch bei Gabe einer potenziell lebensgefährlichen Medikamentendosis nicht zwingend Tötungsvorsatz vor. Der Bundesgerichtshof bestätigte die Verurteilung einer Altenpflegerin wegen Körperverletzung, obwohl die verabreichte Insulindosis ohne Notfallbehandlung hätte tödlich wirken können.

Motiv Überforderung

Eine Altenpflegerin musste sich auf ihrer Station unter anderem um zwei schwer demenzkranke Frauen kümmern. Der Aufwand für die Betreuung der 80- und 85-jährigen Bewohnerinnen war erheblich, so dass sich die Mitarbeiterin überfordert fühlte. Vor Ende ihrer Schicht spritzte sie den Seniorinnen 40 bzw. 50 Einheiten Insulin und verließ dann die Station. Sie ging davon aus, dass diese Dosen unbehandelt tödlich wirken könnten, rechnete aber mit der Alarmierung eines Notarztes durch die anderen Pflegekräfte. Sie hoffte, dass eine stationäre Aufnahme notwendig werden würde. Wie aufgrund der engmaschigen Aufsicht über die Patientinnen von ihr erwartet, wurde die Unterzuckerung rechtzeitig bemerkt und wurden die Frauen durch eine Notfallbehandlung gerettet. Das LG Würzburg verurteilte die Altenpflegerin wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Die Revision der Staatsanwaltschaft blieb erfolglos.

Ständige pflegerische Überwachung

Der 6. Strafsenat würdigte die umfassende Auseinandersetzung des Schwurgerichts mit der Frage des Tötungsvorsatzes. Trotz der vom LG angenommenen extrem hohen Gefährlichkeit ihres Handelns habe das Gericht widerspruchsfrei begründet, warum die Pflegerin auf ein Überleben der Frauen vertraut habe. Insoweit war es aus Sicht der Bundesrichter auch kein Fehler, dass man ihr abgenommen hatte, dass sie auf eine frühere Blutzuckermessung – vor Eintritt der Unterzuckerung – vertraut habe. Angesichts der deutlichen Intelligenzminderung der Angeklagten und der Umstände des Entstehens der Aussage im Ermittlungsverfahren habe die Kammer die Möglichkeit einer Schutzbehauptung ausreichend geprüft. Im Übrigen sei die Pflegerin zutreffend davon ausgegangen, dass die Gefahr jemandem auf der Station noch rechtzeitig auffallen würde.

BGH, Urteil vom 07.09.2022 - 6 StR 52/22

Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 19. September 2022.