Härtefall in Räumungsklagen muss geprüft werden

Wer in einem Räumungsverfahren nach einer Eigenbedarfskündigung einen Härtefall geltend macht, hat einen Anspruch auf rechtliches Gehör dahingehend, dass dieser Einwand gebührend gewürdigt wird. Der Bundesgerichtshof hob ein Urteil auf, in dem sich das Gericht medizinische Sachkunde anmaßte und ein fachärztliches Attest für unschlüssig und nicht aussagekräftig erklärte. Es müsse ein Sachverständigengutachten eingeholt werden.

Suizidgefahr bei Wohnungsräumung?

Einer langjährigen Mieterin wurde ihre Zweizimmerwohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt. Sie hatte kurz zuvor ihr Baby verloren und machte den Härtefall geltend, weil sie psychisch schwer angeschlagen sei. Im Räumungsverfahren behauptete die Mieterin, sie leide unter einer Depression, einer Angststörung und einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Im Fall des Umzugs befürchtete sie, nicht mehr eigenständig leben zu können, weil die Wohnung ihr letzter Rückzugsort sei. Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck hielt diesen (bestrittenen) Vortrag für unerheblich und gab der Räumungsklage statt. In der Berufungsinstanz legte die Mieterin den Befundbericht eines Facharztes für Psychotherapie vor, der ihre Krankheit bestätigte und auch die Gefahr einer gravierenden Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands im Fall der Räumung sah. Das Landgericht München II zerpflückte das Attest, kam zu dem Schluss, dass es unschlüssig und ohne Aussagekraft sei, und wies die Berufung zurück. Die Revision ließ es nicht zu. Die Mieterin wandte sich nun mit der Nichtzulassungsbeschwerde an den Bundesgerichtshof – erfolgreich.

Verletzung rechtlichen Gehörs

Der BGH ließ die Nichtzulassungsbeschwerde zu, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zu sichern. Das Landgericht habe den Anspruch der Mieterin auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es über ihren Gesundheitszustand und die behaupteten Auswirkungen einer Räumung kein Sachverständigengutachten eingeholt habe, obwohl dieses im Rahmen der Härtefallprüfung nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB unabdingbar gewesen wäre. Eine gravierende Gesundheitsverschlechterung im Fall eines Wohnungswechsels stellt dem VIII. Zivilsenat zufolge einen Härtegrund dar, der unbedingt zu erforschen ist. Nur dann könne man die Parteiinteressen gewichten und gegeneinander abwägen. Der Einwand sei hinreichend substanziiert vorgetragen worden und auch mittels Diagnose von einem Facharzt untermauert worden.

Eigene Sachkunde offensichtlich nicht vorhanden

Die Beurteilung des Landgerichts, das Attest sei "unverständlich und unschlüssig" und entfalte "keinerlei Aussagekraft", entspringt dem BGH zufolge einer angemaßten Sachkunde der Münchener Richter. Die von ihnen aufgezählten Widersprüche ließen sich allesamt auflösen, weil sie aus dem jeweiligen Sachzusammenhang gerissen worden waren. Der BGH verwies die Sache zurück, um den geltend gemachten Härtefall vertieft zu prüfen. Er wies darauf hin, dass der Sachverhalt zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung für die Entscheidung maßgeblich ist und das Gericht § 308a ZPO zu beachten hat, also gegebenenfalls auch ohne Antrag zu entscheiden hat, für welche Dauer und unter welchen Änderungen der Vertragsbedingungen das Mietverhältnis fortgesetzt wird.

BGH, Beschluss vom 13.12.2022 - VIII ZR 96/22

Redaktion beck-aktuell, 31. Januar 2023.