Grundsatz des fairen Verfahrens nach einem geplatzten Deal

Hat eine Revision der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg, muss auch der Schuldspruch aufgehoben werden, wenn das vorinstanzliche Urteil auf einem Geständnis des Angeklagten im Rahmen einer Verständigung beruht. Der Bundesgerichtshof begründete seine Entscheidung mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der es gebiete, auch gegen den Wortlaut des § 353 Abs. 1 StPO zu handeln, um das Vertrauen des Angeklagten in die Verständigung zu rechtfertigen. 

Revisionseinlegung der Staatsanwaltschaft nach einer Verständigung

Ein Mann wurde auf einem Tankstellengelände von einem Mercedes-Benz versehentlich leicht angefahren. Von einem Bekannten angestachelt, beschloss er, dem Benz-Fahrer eine Lektion zu erteilen. Mit einem Gramm Kokain und einen halben Liter Whisky-Cola im Blut suchte er ihn mit einer Gruppe von mindestens sechs Leuten auf. Sie verprügelten den Mann so schwer, dass er lebensgefährliche und dauerhafte Verletzungen erlitt. Anschließend nahmen sie ihm seinen Pkw, eine teure Uhr, ein Telefon und 1.000 Euro weg. In der Hauptverhandlung verständigten sich die Beteiligten: Wenn der Angeklagte ein Geständnis ablege, werde eine Freiheitsstrafe zwischen vier- und fünfeinhalb Jahren verhängt werden. Dabei gingen sie von einer Schuldminderung wegen des vorherigen Drogenkonsums aus. Der beauftragte Gutachter aber hielt eine Minderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten für unwahrscheinlich, er könne sie allerdings auch nicht ausschließen. Das LG Berlin verurteilte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten, wobei es "im Zweifel zugunsten des Angeklagten" eine erhebliche Schuldminderung zugrunde legte. Die Staatsanwaltschaft erhob die Revision zuungunsten des Angeklagten – mit Erfolg.

Fehlerhafte Prüfung der Schuldminderung

Der 5. Strafsenat verlangt eine mehrstufige Prüfung zur Bestimmung der erheblichen Schuldminderung nach § 21 StGB: Erst müsse das Tatgericht feststellen, dass eine psychische Störung im Sinne des § 20 StGB vorliegt. Dann müsse es die konkrete Ausprägung der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters bestimmen. Mithilfe eines Sachverständigen müsse dargelegt werden, in welcher Weise sich die Störung zur Tatzeit auf seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt haben. Da hier die Feststellungen fast vollständig fehlten und der Sachverständige keine Hinweise auf eine erhebliche Beeinträchtigung des Angeklagten fand, beruht die Anwendung des § 21 StGB dem BGH zufolge auf einem Rechtsfehler.

Fehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes

Hinzu komme die fehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes: Die Frage, ob eine Beeinträchtigung erheblich ist oder nicht, ist laut BGH eine Rechtsfrage, die dem Zweifelssatz nicht zugänglich ist. Außerdem habe das Gericht eigenständig prüfen müssen, welche Gründe für und gegen die Schuldminderung sprechen. Erst wenn dann noch ein Zweifel über Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes verbleibe, könne der Satz "in dubio pro reo" angewendet werden.

Vollständige Aufhebung des Urteils

Da die Schuldfähigkeit des Angeklagten nur die Strafzumessung betreffe, sei an sich nach § 353 Abs. 1 StPO nur der Strafausspruch aufzuheben. Der Schuldspruch hingegen würde rechtskräftig. Der 5. Strafsenat hält ein solches Ergebnis für nicht tragfähig. Er hob das gesamte Urteil gegen den Wortlaut des § 353 Abs. 1 StPO auf, aber mit Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens, der ein Leitmotiv des Gesetzgebers darstelle: Da das Urteil auf einer Verständigung nach § 257c StPO beruhe, käme es anderenfalls zu der Situation, dass die Tatsachen auf dem vereinbarten Geständnis basierten, ohne dass das "neue" Tatgericht an die geschlossene Vereinbarung hinsichtlich des Strafrahmens gebunden wäre. Das Verschlechterungsverbot nach den §§ 331, 358 Abs. 2 StPO käme dem Angeklagten auch nicht zugute, weil die Staatsanwaltschaft zu seinen Ungunsten Revision eingelegt habe. Um das Vertrauen des Angeklagten in die Absprache zu rechtfertigen, sei es deshalb notwendig, auch den Schuldspruch aufzuheben.

Verfahrensrüge versus Sachrüge

Der mit dem gleichen Ziel erhobenen Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft erteilte der BGH jedoch eine Absage. Gegen § 257c Abs. 4 StPO, wonach die Bindung des Gerichts entfällt, wenn sich wesentliche Umstände, die der Verständigung zugrunde lagen, entfallen oder sich verändern, hat das LG Berlin nach Ansicht des BGH nicht verstoßen. Der in Aussicht gestellte Strafrahmen komme auch in Betracht, wenn die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 StGB nicht angewendet werden könne. Daher könne die fehlerhafte Annahme der Schuldminderung nur mit der Sachrüge erfolgreich angefochten werden.

BGH, Urteil vom 23.11.2022 - 5 StR 347/22

Redaktion beck-aktuell, 23. Februar 2023.