"Glaubhaftmachung" im GWB eigenständig auszulegen

Bei der Glaubhaftmachung, einen kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch haben zu können, genügt es dem Bundesgerichtshof zufolge bereits, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte dafür eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht. Der in § 33g des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) enthaltene Begriff müsse richtlinienkonform autonom ausgelegt werden und verlange keine überwiegende Wahrscheinlichkeit.

Vertriebskooperation im Schienenpersonennahverkehr

Die Muttergesellschaft der Transdev-Gruppe, ein privater ÖPNV-Anbieter, verklagte zwei Tochtergesellschaften der Deutsche Bahn AG (DB AG) aus abgetretenem Recht ihrer sieben Tochterunternehmen auf Auskunft (erste Stufe), Herausgabe von Beweismitteln (zweite Stufe) und Ersatz kartellbedingten Schadens in Höhe von 18,6 Millionen Euro (dritte Stufe), der ab 2008 entstanden sein soll. Die Tochterunternehmen der Gruppe arbeiteten mit den Gesellschaften der DB AG in Vertriebskooperationen zusammen. Auf deren Grundlage gewährten sie sich gegenseitig Provisionen für den Vertrieb von Fahrkarten der jeweils anderen Seite. Die von den Tochterfirmen an die beklagten Bahntöchter gezahlten Provisionen betrugen bis 30.06.2016 zwischen 10 und 19%, die von diesem an die Tochterbetriebe gezahlten Provisionen 7,5%. Ein vom Bundeskartellamt durchgeführtes Missbrauchsverfahren gegen die Deutsche Bahn endete mit einer Verpflichtungszusage, wonach der Konzern ab dem 01.07.2016 Provisionen von nur noch maximal 8,5% berechnen durfte. Im Mai 2015 stellte das Bundeskartellamt das Verfahren ein und erklärte die von der DB AG abgegebenen Verpflichtungszusagen per Zusagenbeschluss nach § 32b GWB für bindend.

OLG hält den Schadensersatzanspruch nicht für glaubhaft gemacht

Sowohl das LG Frankfurt am Main als auch das dortige OLG wiesen das Anliegen zurück. Zwar finde § 33g GWB seit der ab dem 19.01.2021 gültigen Fassung des § 186 Abs. 4 GWB a.F. (jetzt § 187 GWB) auf den Fall Anwendung. Der Klägerin stünden jedoch die auf der ersten Stufe geltend gemachten Auskunftsansprüche aus § 33g Abs. 1 GWB nicht zu, weil sie nicht glaubhaft gemacht habe, dass sie gegen die Beklagten einen Schadensersatzanspruch habe. Es gelte der Maßstab von § 294 ZPO: Es müsse eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bestehen. Die Revision der Klägerin beim BGH hatte Erfolg.

Geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad ist ausreichend

Der Kartellsenat verwies die Sache ans OLG zurück. Er monierte zunächst, dass die Beteiligten zu Unrecht von einer unzulässigen Stufenklage anstelle einer Anspruchshäufung nach § 260 ZPO ausgegangen waren. Die Begründung, mit der das OLG die Ansprüche der Klägerin aus §§ 33g Abs. 1, 10 GWB auf Auskunftserteilung und Herausgabe von Beweismitteln verneint habe, sei im Übrigen nicht tragfähig. Entgegen der Ansicht des OLG Frankfurt am Main setze die Glaubhaftmachung nicht voraus, dass das Bestehen eines Schadensersatzanspruches überwiegend wahrscheinlich sei. Die gebotene richtlinienkonforme Auslegung des Begriffs spricht nach Ansicht des BGH gegen eine Übertragung des Maßstabs von § 294 ZPO. Auf Grundlage der vom OLG getroffenen Feststellungen bestehe eine gewisse - und damit für die Glaubhaftmachung nach § 33g Abs. 1 GWB genügende - Wahrscheinlichkeit dafür, dass die DB-Töchter der Klägerin nach §§ 33 Abs. 3 GWB a.F., 33a GWB zum Schadensersatz verpflichtet sein könnten.

BGH, Urteil vom 04.04.2023 - KZR 20/21

Redaktion beck-aktuell, 16. Juni 2023.