BGH gestattet weiteren Vertrieb eines HIV-Medikaments

Der unter anderem für das Patentrecht zuständige Zehnte Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat eine vom Bundespatentgericht ausgesprochene vorläufige Gestattung (GRUR 2017, 373) zum weiteren Vertrieb des Medikaments "Isentress" zur Behandlung von HIV-Infektionen bestätigt. Die Karlsruher Richter teilten unter anderem die Einschätzung des BPatG, dass ein öffentliches Interesse an der Erteilung einer Zwangslizenz glaubhaft gemacht wurde (Urteil vom 11.07.2017, Az.: X ZB 2/17).

Streit um Vertrieb des HIV-Medikaments "Isentress"

Die Antragstellerinnen, drei miteinander verbundene Pharmaunternehmen, vertreiben in Deutschland seit 2008 das Arzneimittel Isentress, das den Wirkstoff Raltegravir enthält und zur Behandlung von Infektionen mit dem Humanen Immundefizienzvirus (HIV) eingesetzt wird. Die Antragsgegnerin ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 422 218 (Streitpatent), das ein antivirales Mittel betrifft. Das Streitpatent wurde am 08.08.2002 angemeldet und am 21.03.2012 erteilt. Das Europäische Patentamt hat es in einem Einspruchsverfahren in geänderter Fassung aufrechterhalten. Die dagegen eingelegte Beschwerde der Einsprechenden ist noch anhängig. Mit Schreiben vom 03.06.2014 machte die Antragsgegnerin gegenüber einer mit den Antragstellerinnen verbundenen Gesellschaft geltend,  "Isentress" falle in den Schutzbereich des japanischen Patents 2005 207 392, das zur Familie des Streitpatents gehört. Nachfolgende Verhandlungen über eine weltweite Lizenzvereinbarung blieben ohne Ergebnis.

LG setzt Rechtsstreit zunächst aus

Im Augst 2015 hat die Antragsgegnerin die Antragstellerinnen vor dem Landgericht Düsseldorf wegen Verletzung des Streitpatents unter anderem auf Unterlassung in Anspruch genommen. Das LG hat den Rechtsstreit bis zur Entscheidung über die beim Europäischen Patentamt anhängige Beschwerde ausgesetzt. Die gegen die Aussetzung eingelegte sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist erfolglos geblieben.

Vorläufige Gestattung beantragt

Im Januar 2016 hat die Antragstellerin zu 1 die Antragsgegnerin auf Erteilung einer Zwangslizenz am Streitpatent gemäß § 24 Abs. 1 PatG in Anspruch genommen. Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 sind dem Verfahren später beigetreten. Über die Klage ist erstinstanzlich noch nicht entschieden. Mit Schriftsatz vom 07.06.2016 haben die Antragstellerinnen beantragt, ihnen die Benutzung der geschützten Erfindung durch einstweilige Verfügung gemäß § 85 Abs. 1 PatG vorläufig zu gestatten.

BPatG gibt Hilfsantrag zum Vertrieb des Medikaments statt

Das BPatG hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens den nicht auf einzelne Abgabeformen beschränkten Hauptantrag der Antragstellerinnen zwar zurückgewiesen. Auf ihren Hilfsantrag hat es ihnen den Vertrieb von Isentress zur Behandlung von HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten in den vier bereits auf dem Markt befindlichen, im angefochtenen Urteil näher bezeichneten Abgabeformen vorläufig gestattet.

BGH bestätigt Einschätzung des BPatG zum Bemühen der Antragstellerinnen

Dagegen wandte sich die Antragsgegnerin ohne Erfolg mit der Beschwerde. Der BGH hat die erstinstanzliche Entscheidung des BPatG bestätigt. So sind die Karlsruher Richter mit der Vorinstanz zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorgerichtlichen Bemühungen der Antragstellerinnen, eine Zustimmung zur Nutzung der Erfindung zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen zu erlangen, unter den besonderen Gegebenheiten des zu entscheidenden Einzelfalls – insbesondere im Hinblick auf den ungewissen Ausgang des Einspruchsverfahrens – ausreichend waren.

Auch BGH sieht öffentliches Interesse für Erteilung einer Zwangslizenz

Ferner hat der BGH die Einschätzung des BPatG geteilt, dass ein öffentliches Interesse an der Erteilung einer Zwangslizenz glaubhaft gemacht worden ist. Zwar sei nicht jeder HIV- oder AIDS-Patient darauf angewiesen, jederzeit mit Raltegravir behandelt werden zu können. Es gebe aber Patientengruppen, die Raltegravir zur Erhaltung der Behandlungssicherheit und -güte benötigten. Dazu gehörten insbesondere Säuglinge, Kinder unter zwölf Jahren, Schwangere, Personen, die wegen bestehender Infektionsgefahr eine prophylaktische Behandlung benötigen, und Patienten, die bereits mit Isentress behandelt werden und denen bei einer Umstellung auf ein anderes Medikament erhebliche Neben- und Wechselwirkungen drohen. Vor diesem Hintergrund hat der BGH auch ein öffentliches Interesse an einer vorläufigen Gestattung des weiteren Vertriebs bejaht.

BGH, Urteil vom 11.07.2017 - X ZB 2/17

Redaktion beck-aktuell, 12. Juli 2017.