"Gesamtstrafenbildung" mit EU-Freiheitsstrafen

Im EU-Ausland ergangene Strafen müssen bei einer fiktiven Gesamtstrafenbildung nicht eins zu eins wie deutsche Strafen behandelt werden. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht gilt, wenn ein Gericht dadurch gehindert werden würde (hier wegen Über­schrei­tung der Ober­gren­ze bei zei­ti­gen Frei­heits­stra­fen), eine vollstreckbare Strafe zu verhängen. In diesem Fall sei es zulässig, einen nicht genau bezifferten Nachteilsausgleich zu gewähren. 

In Deutschland und Frankreich Straftaten begangen

Ein Mann entführte 2003 eine Studentin in Freiburg und vergewaltigte sie. In Frankreich beging er sowohl vorher als auch nachher Straftaten, wegen derer er von französischen Strafgerichten auch verurteilt worden war. Insgesamt saß er über siebzehn Jahre hinter Gittern (Teilverbüßung), bevor er 2021 nach Deutschland ausgeliefert wurde, um sich hier wegen seiner Tat in Freiburg zu verantworten. Das Landgericht Freiburg verurteilte ihn wegen schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Es ging dabei davon aus, dass die „wirklich angemessene“ Strafe sieben Jahre Freiheitsstrafe betragen würde. Wegen der fehlenden Möglichkeit, eine Gesamtstrafe mit ausländischen Strafen zu bilden, setzten die Freiburger Richter die Strafe um ein Jahr herab. Der Franzose erhob die Revision zum Bundesgerichtshof, der den Fall dem EuGH vorlegte, um zu erfahren, wie das europäische Recht den Konflikt zwischen Gleichbehandlungsgebot und Strafbedürfnis eines anderen Mitgliedsstaats löst.

Grundsätzlich hat jede Strafe die gleiche Wirkung

Der EuGH erklärte, dass Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 grundsätzlich eine Diskriminierung bezüglich ausländischer Strafen verbietet. Jeder Mitgliedstaat müsse sicherstellen, dass frühere Verurteilungen einer Person in einem anderen Mitgliedstaat genauso berücksichtigt würden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen. Wie aber der Bundesgerichtshof ausgeführt habe, würde die Gleichstellung hier dazu führen, dass die Strafe gegen den Franzosen wegen seiner Tat nicht vollstreckt werden könne. § 54 Abs. 2 StGB sehe eine Obergrenze für zeitige Freiheitsstrafen von fünfzehn Jahren vor. Diese sei allein durch seine Verurteilung zu einer Strafe von 15 Jahren 2008 in Frankreich erreicht.

Ausnahme: Einschränkung bei Strafverhängung im neuen Verfahren

Die Luxemburger Richter verwiesen aber auf den Ausnahmetatbestand in Art. 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses: Hiernach müsse § 54 Abs. 2 StGB nicht angewendet werden, wenn das Gericht dadurch eingeschränkt würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen. Die EU habe keine Harmonisierung der Gesamtstrafenbildung angestrebt, sondern der Vielfalt der innerstaatlichen Lösungen und Verfahren Rechnung tragen wollen. Es soll dem EuGH zufolge nur „soweit wie möglich“ vermieden werden, dass die betroffene Person schlechter behandelt wird, als wenn die frühere Verurteilung im Inland ergangen wäre. Da das Landgericht Freiburg hier tatsächlich gehindert wäre, eine Strafe zu verhängen, wenn es § 54 Abs. 2 StGB anwenden würde, sei der Ausnahmetatbestand gegeben.

Berücksichtigung durch Härtefallausgleich möglich

Die Zweite Kammer des EuGH stellt es den Mitgliedsstaaten frei, auf welche Weise sie die ausländischen Verurteilungen bei der eigenen Strafzumessung berücksichtigt. Ihrer Ansicht nach müssen sie noch nicht einmal konkret begründen, wie der Nachteil beziffert wird. Gegen die Lösung des Freiburger Landgerichts, pauschal einen Härtefallausgleich von einem Jahr Freiheitsstrafe zu gewähren, erhob der EuGH keine Einwände. 

EuGH, Urteil vom 12.01.2023 - C-583/22

Redaktion beck-aktuell, 13. Januar 2023.