Gericht muss Fristwahrung aufklären

Bevor ein Berufungsgericht das Rechtsmittel wegen Verfristung abweist, hat es von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufungsbegründungsfrist eingehalten worden ist. Der Bundesgerichtshof verlangt die Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse, bevor eine Abweisung des Rechtsmittels ergeht. In der Entscheidung ging es um die Zustellung eines Urteils – die Prozessbeteiligten hatten den Empfang einen Tag vor der Beglaubigung des Urteils quittiert.

Urteil einmal oder zweimal versandt?

Der Kläger klagte vor dem Landgericht Würzburg auf Schadenersatz im Zusammenhang mit einem Autokauf. Am 22.12.2020 wies das Landgericht die Klage ab. Einen Tag später beglaubigte die Urkundsbeamtin das Urteil und vermerkte handschriftlich die Übersendung des Urteils an die Prozessbeteiligten. Allerdings wiesen die Empfangsbekenntnisse der beiden Prozessbevollmächtigten den 22.12.2020 aus. Der Kläger legte Berufung gegen das am "23. Dezember" zugestellte Urteil ein und bat am 23.2.2021 um Fristverlängerung für die Berufungsbegründungsfrist. Der Vorsitzende des Berufungssenats holte nun telefonisch eine Stellungnahme der Urkundsbeamtin vom Landgericht ein: Danach sei das Urteil laut EDV zweimal versendet worden, einmal am 22.12.2020 und einmal am 23.12.2020 - vermutlich wegen EDV-Störungen. Schriftlich ergänzte sie, dass es in letzter Zeit häufiger vorkomme, dass die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniere und das Dokument "gelb" (für nicht versendet) hinterlegt sei. Am nächsten Tag werde es dann erneut versendet. Das Oberlandesgericht Bamberg wies die Berufung als unzulässig ab, weil sie nicht fristgemäß begründet worden war. Dagegen erhob der Kläger erfolgreich die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof.

Vor der Abweisung alle Erkenntnisse ausschöpfen

Der VII. Zivilsenat hält die Bemühungen des OLG zur Aufklärung des Widerspruchs für unzureichend:  Allein die telefonische Rückfrage in der Geschäftsstelle des LG reiche nicht aus, der Vorsitzende hätte sich die Akte kommen lassen müssen, um die Versendungsvorgänge im Einzelnen zu rekonstruieren. Insbesondere wäre zu klären gewesen, warum der Kläger ein am 23.12.2020 beglaubigtes Urteil vorgelegt hat. Das sei unmöglich, wenn die Urkundsbeamtin das Urteil bereits einen Tag zuvor beglaubigt habe, weil der Zeitpunkt der Beglaubigung nach §§ 317 Abs. 1 Satz 1169 Abs. 2 Satz 1 ZPO auf dem Schriftstück vermerkt werden muss. Selbst wenn es an zwei aufeinanderfolgenden Tagen versendet worden ist, ändere sich daran nichts. Der BGH will auch klären lassen, warum die Urkundsbeamtin erst am 23.12.2020 vermerkt, dass sie das Urteil versendet hat, wenn sie die Versendung bereits am Vortag vollzogen hat. Und dann gebe es noch den Widerspruch der Beamtin, dass sie das Urteil infolge einer technischen Störung vermutlich zweimal verschickt hat, obwohl eine zweimalige erfolgreiche Versendung gerade nicht auf einer technischen Störung beruhen könne. Laut BGH muss das Gericht nach § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO alle erschließbaren Erkenntnisse ausschöpfen, bevor es die Berufung zulasten des Klägers abweise. Der Beschluss wurde deshalb aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen.

Urkundsbeamtin in Zustellungssachen alleinverantwortlich

Am Rande erklärte der VII. Zivilsenat, dass die Richterin am Landgericht nicht um Auskunft hätte ersucht werden müssen. Nach § 168 Abs. 1 Satz 1 ZPO führt die Urkundsbeamtin die Zustellung in eigener Zuständigkeit und Verantwortung aus und überwacht diese. Die Richterin könne also in der Regel über die Zustellungsvorgänge keinerlei weitere Auskünfte erteilen.

BGH, Beschluss vom 13.07.2022 - VII ZB 29/21

Redaktion beck-aktuell, 5. September 2022.