Gehörsverstoß durch unzulässige Beweisantizipation

Lehnt ein Gericht in einem Arzthaftungsprozess den Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen mit der Begründung ab, nur dessen Operationsbericht sei für die Beurteilung etwaiger Behandlungsfehler entscheidend, kann darin ein Gehörsverstoß liegen. Dies gilt insbesondere wenn Indizien dafür sprechen, dass der Bericht missverständlich formuliert worden sein könnte. Eine vorweggenommene Beweiswürdigung ist laut Bundesgerichtshof grundsätzlich unzulässig. 

"Muskuläres Streckdefizit" nach Austausch des künstlichen Kniegelenks

Eine Frau verklagte ein Krankenhaus sowie einen Chefarzt wegen ärztlicher Fehlbehandlung und unzureichender Aufklärung auf Schadensersatz. Sie hatte seit ihrem 16. Lebensjahr Kniebeschwerden und wurde deswegen bereits 13 Mal operiert. Im Januar 2012 erhielt sie ein künstliches Kniegelenk. 2013 wurden bei einer Punktion im rechten Kniegelenk Staphylokokken nachgewiesen. Daraufhin bekam sie Antibiotika. Zwei Tage später wechselte der Chefarzt die Prothese aus und spülte das Gelenk. Nach ihrer Entlassung nahm sie zehn Wochen lang Antibiotika ein. Ein Jahr später stellte der Mediziner eine chronische Knieinfektion fest. Daher entfernte er den alten Ersatz und ersetzte ihn zunächst durch einen Platzhalter. Anfang 2015 wollte er das neue Gelenk einsetzen. Die Klägerin war schon in Vollnarkose, wachte aber nach etwa 30 Minuten wieder auf. Das OP-Sieb sei unsauber gewesen und eine falsche Prothese habe darin gelegen, so die Erklärung. Der Eingriff wurde vier Tage später durchgeführt. Danach konnte die Klägerin ihr Knie nur geringfügig strecken. Einige Monate später musste die Prothese erneut ausgetauscht werden. Laut Aussage der Frau habe der nachbehandelnde Operateur ihr gesagt, die Prothese sei verdreht eingesetzt worden und habe im Schienbeinbereich aufgrund des Zements nicht direkt ausgetauscht werden können. Die voll einzementierte Schaftverlängerung im Schienbein wurde erst 2018 entfernt.

OLG lehnt Beweisangebot der Klägerin ab

Das LG Essen erkannte der Klägerin lediglich wegen der unterlassenen Überprüfung des OP-Instrumentariums vor Einleitung der Vollnarkose Anfang 2015 ein Schmerzensgeld von 500 Euro zu. Dies bestätigte das OLG Hamm, denn die Geschädigte habe etwaige Fehler im Zusammenhang mit der Planung der Eingriffe nicht bewiesen. Eine Vernehmung des von ihr angebotenen Zeugen - des nachbehandelnden Operateurs - sei nicht erforderlich gewesen. Im Einklang mit dem Gutachten des Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die Beschreibung des Chirurgen aussagekräftiger sei: Dieser habe im OP-Bericht ausführlich dokumentiert, dass und warum ein Wechsel der "tibialen Komponente" nicht erforderlich gewesen sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte überwiegend Erfolg und führte zur Zurückverweisung.

Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt

Durch die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots der Klägerin habe das OLG ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, so der VI. Zivilsenat. Diese beruhe auf einer vorweggenommenen Beweiswürdigung, die grundsätzlich unzulässig sei. Das OLG habe dem Eindruck des Mediziners während des zweiten Eingriffs im Jahr 2015 maßgebliche Bedeutung beigemessen und dabei den Befund als aussagekräftiger als die Bildgebung angesehen. Gerade bei dieser Sachlage hätte es von der Vernehmung des Operateurs nicht absehen dürfen. Es habe damit der Klägerin die Möglichkeit des Beweises abgeschnitten, dass der den Bericht verfassende Arzt eine relevante Fehlstellung auch der tibialen Komponente der Prothese festgestellt und dies lediglich unglücklich schriftlich niedergelegt habe. Es sei nicht auszuschließen, dass das OLG bei Vernehmung des Zeugen zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.

BGH, Beschluss vom 16.08.2022 - VI ZR 1151/20

Redaktion beck-aktuell, 15. September 2022.