Gehörsverstoß durch unterbliebene Zeugenvernehmung in Berufungsinstanz

Vernimmt ein Berufungsgericht eine erstinstanzlich vernommene Zeugin nicht erneut, obwohl es deren Aussage anders würdigt als die Vorinstanz, liegt darin regelmäßig ein Gehörsverstoß, entschied der Bundesgerichtshof in einem Streit um Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Skiunfall. Das Gericht sei grundsätzlich verpflichtet, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Die nochmalige Vernehmung könne nur im Ausnahmefall unterbleiben.

Unfall auf steiler Skipiste

Ein Skifahrer nahm einen anderen Pistenfahrer auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Skiunfall in Anspruch. Er befuhr gerade im Skigebiet Ellmau/Wilder Kaiser (Tirol), die Skipiste 97b in Richtung Talstation. Der Beklagte befuhr die Skipiste 98b, einen Ziehweg, der vom Berg aus gesehen rechts in die Piste 97b einmündete, und überquerte dann die Piste 97b. Im Einmündungsbereich des Ziehwegs stand ein Stoppschild. Kurz bevor der Beklagte die Piste 97b vollständig überquert hatte, prallte er vom Berg aus gesehen am linken Pistenrand mit dem Kläger zusammen. Dieser erlitt unter anderem einen Trümmerbruch des rechten Oberschenkels.

OLG entscheidet ohne eigene Beweisaufnahme

Das LG Mainz verurteilte den Beklagten nach Vernehmung einer Unfallzeugin auf Grundlage einer Haftungsquote von 75% zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld und stellte eine Ersatzpflicht für 75% der noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden fest. Das OLG Koblenz wies die Schadensersatzklage ohne eigene Beweisaufnahme insgesamt ab und ließ die Revision nicht zu. Der Beweis des ersten Anscheins spreche für eine Unfallverursachung des Klägers. Er habe den Unfall unter Verstoß gegen die FIS-Regeln Nr. 1, 2 und 3 durch seine zu schnelle, auf der Piste nicht angepasste Fahrweise allein verursacht. Es sei davon auszugehen, dass er die relativ steile Hauptpiste 97b mit erheblicher Geschwindigkeit befahren habe, während der Beklagte diese langsam überquert habe. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers beim BGH hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung.

Berufungsgericht hätte sich eigenen Eindruck verschaffen müssen

Dem VI. Zivilsenat zufolge hat das OLG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Es habe die Aussage der Zeugin abweichend vom LG gewürdigt, ohne sich durch erneute Vernehmung der Zeugin entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO einen eigenen Eindruck zu verschaffen, so die Kritik. Während das LG davon überzeugt war, dass der Beklagte mit erheblicher Geschwindigkeit in den Kläger "rein gefahren" sei, nahm das OLG laut BGH an, dass der Kläger die Hauptpiste mit erheblicher Geschwindigkeit befuhr, der Beklagte diese aber langsam überquerte. Es sei nicht auszuschließen, dass das OLG zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugin erneut vernommen hätte. Ob der Beklagte - zumal angesichts des Stoppschilds auf dem Ziehweg - das Queren der Piste 97b erst fortsetzen durfte, nachdem er freie Sicht auf die linke Seite der Piste hatte und sich vergewissert hatte, dass sich ihm dort von oben kein Skifahrer näherte, müsse das OLG nunmehr klären. Ob die FIS-Regel Nr. 3, nach der ein von hinten kommender Skifahrer seine Fahrspur so wählen muss, dass er vor ihm fahrende Skifahrer nicht gefährdet auch gilt, wenn ein Skifahrer auf einem mit einem Stoppschild versehenen Ziehweg fährt und eine andere Piste quert, sei zu prüfen.

BGH, Beschluss vom 23.02.2023 - VI ZR 98/22

Redaktion beck-aktuell, 6. April 2023.