Gehörsverletzung bei Ablehnung einer Fristverlängerung

Eine Gehörsverletzung ist gegeben, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die gerichtliche Entscheidung bei Berücksichtigung des übergegangenen Vorbringens anders ausgefallen wäre. Für die Einschätzung ist laut Bundesgerichtshof auf den Prüfungsmaßstab des betroffenen Gerichts zurückzugreifen. Die Bundesrichter wiesen darauf hin, dass es keine "stillschweigende" Fristverlängerung gibt.

Patientin bekam keine Gelegenheit zur Äußerung

Eine Patientin war in einem Arzthaftungsprozess sowohl beim LG Berlin als auch beim dortigen Kammergericht gegen ihre Behandlerin vorgegangen. Beim LG gewann sie teilweise; die Berufungsrichter teilten am 20.04.2020 allerdings mit, dass sie die Zurückweisung ihrer Berufung beabsichtigten, und gaben ihr Gelegenheit, binnen vier Wochen Stellung zu beziehen. Ihre Anwälte baten am 25.05.2020 – vor Ablauf der Frist – erfolglos um "stillschweigende Verlängerung [...] zur Stellungnahme bis zum 06.07.2020", da die gesetzte Frist wegen Arbeitsüberlastung nicht eingehalten werden könne. Die Verwerfung erfolgte am 10.06. Am 14.06.2020 wiesen die Berliner Richter "vorsorglich“ darauf hin, dass der Antrag "am 25.05.2020 per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangen ist, aber erst am 11.06.2020 und damit nach Erlass des Beschlusses vom 10.06.2020 vorgelegt worden ist“. Die Geschädigte teilte mit, dass sie sich in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt fühle. Wäre ihr die Gelegenheit zur Äußerung nicht abgeschnitten worden, hätte sie noch Erhebliches ausgeführt. Sie machte in der Begründung der – erfolgreichen – Nichtzulassungsbeschwerde hierzu Angaben.

Berufungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab ist maßgebend

Dem VI. Zivilsenat zufolge ist der Anspruch der Frau auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil das Kammergericht ihren Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht zur Kenntnis genommen und ihre Berufung zurückgewiesen habe. Es sei nicht auszuschließen, dass das KG bei Berücksichtigung einer – innerhalb der verlängerten Frist abgegebenen – Stellungnahme zu seinem Hinweisbeschluss zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre. Maßgeblich sei dabei der Prüfungsmaßstab, den das OLG hätte anlegen müssen. Dabei sei unerheblich, dass das am 25.05.2020 per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangene Schreiben erst nach Erlass des Zurückweisungsbeschlusses am 10.06.2020 vorgelegt worden sei. Auch stehe dem nicht entgegen, dass das KG die beantragte Fristverlängerung nicht hätte gewähren müssen, da diese nach § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden "könne“" Zwar hätten die Juristen nicht erwarten dürfen, dass die Frist "stillschweigend" verlängert werde – Fristverlängerungen müssten ausdrücklich bewilligt werden. Allerdings hätten sie sich nicht erkundigen müssen, ob und bis wann das KG die Frist verlängert habe oder verlängern werde. Der BGH verwies die Sache daher an das KG zurück.

BGH, Beschluss vom 28.09.2021 - VI ZR 946/20

Redaktion beck-aktuell, 27. Oktober 2021.