Grenzen der Fürsorgepflicht eines funktionell unzuständigen Gerichts

Wird die Berufung in einer Wohnungseigentumssache entgegen der richtigen Rechtsmittelbelehrung beim falschen Landgericht eingelegt, kann jenes seine Unzuständigkeit nicht "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" erkennen. Es liegt laut Bundesgerichtshof grundsätzlich in der Verantwortung des Rechtsanwalts, die zutreffende Rechtsmittelbelehrung zu befolgen. Demgegenüber sei das Gericht nicht gehalten, die Fristversäumnis abzuwenden.

Rechtsmittel beim falschen Landgericht eingelegt

Eine Wohnungseigentümergemeinschaft verlangte von ihrer ehemaligen Verwalterin die Herausgabe von Verwaltungsunterlagen. Das AG Essen gab der Klage weitgehend statt und stellte seine Entscheidung der Verwalterin am 28.08.2020 zu. Die Berufung der Beklagten ging am 21.09.2020 beim LG Essen ein. Und das, obwohl in der Rechtsmittelbelehrung das LG Dortmund als zuständiges Rechtsmittelgericht bezeichnet war. Daraufhin nahm die Dienstleisterin ihre Berufung zurück, legte sie beim LG Dortmund ein und beantragte die Wiedereinsetzung. Eingegangen waren die Schriftstücke dort verspätet am 27.10.2020. Die Dortmunder Richter wiesen den Antrag zurück und verwarfen das Rechtsmittel als unzulässig, da die Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten (§§ 85 Abs. 1, 233 Satz 1 ZPO) beruhe. Zwar sei der dortigen Geschäftsstelle am 28.09.2020 - dem Tag des Fristablaufs - aufgefallen, dass in der Rechtsmittelbelehrung das LG Dortmund als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet werde. Es sei aber ausreichend gewesen, die Akte mit einem entsprechenden Vermerk im üblichen Geschäftsgang an den zuständigen Richter weiterzuleiten. Auch die Rechtsbeschwerde scheiterte beim BGH.

Hohe anwaltliche Sorgfaltsanforderungen

Dem stimmte der V. Zivilsenat zu. Die Berufung habe fristwahrend nur bei dem LG Dortmund als dem von der Regelung des § 72 Abs. 2 GVG a.F. vorgegebenen Berufungsgericht eingelegt werden können. Denn bei einer Klage auf Herausgabe von Verwaltungsunterlagen handele es sich um eine Wohnungseigentumssache (§ 72 Abs. 2 Satz 1 GVG a.F. in Verbindung mit § 43 Nr. 3 WEG a.F.). Der BGH betonte, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten den hohen Sorgfaltsanforderungen schon deshalb nicht gerecht geworden ist, weil er die zutreffende Rechtsmittelbelehrung nicht befolgte. Zu Recht habe das LG Dortmund entschieden, dass das funktionell unzuständige LG Essen nicht aufgrund der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten war, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Selbst wenn die Berufungsschrift dem zuständigen Richter vor Fristablauf vorgelegen und er die Rechtsmittelbelehrung bemerkt hätte, wäre er nicht verpflichtet gewesen, die funktionelle Zuständigkeit in diesem Verfahrensstadium zu prüfen.

BGH, Beschluss vom 09.12.2021 - V ZB 12/21

Redaktion beck-aktuell, 25. Januar 2022.