Freies Geleit für Auslandszeugen

Wird die Vernehmung eines Auslandszeugen unter der Gewährung freien Geleits beantragt, muss dieser auf die Möglichkeit der gefahrlosen Einreise hingewiesen werden. Der Bundesgerichtshof beanstandete die Ablehnung eines solchen Beweisantrags: Die Angabe des Entlastungszeugen vor der türkischen Polizei, nicht als Zeuge auftreten zu wollen, sei möglicherweise durch Angst vor einer Verhaftung motiviert gewesen.

Mittäter, Onkel und Entlastungszeuge

Ein Mann wehrte sich in einem Fall von vermutlicher Blutrache gegen seine Verurteilung wegen versuchten Mordes. 2012 hatten zwei Personen in Bielefeld auf einen Dritten eingestochen und ihn lebensgefährlich verletzt. Nach Überzeugung des Landgerichts Dortmund handelte es sich um eine Racheaktion für den Mord, den die Söhne des Verletzten an dem Bruder des Angeklagten begangen hatten. In einem Indizienprozess kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Verurteilte und sein in die Türkei geflüchteter Onkel F. die Täter gewesen seien. Der Mann bestätigte, von seinem mitangeklagten Vater zur Tat aufgefordert worden zu sein. Auch sei er vor Ort gewesen, habe aber eine Beteiligung abgelehnt – F. und eine weitere Person (zu der er keine Angaben machte) hätten die Tat begangen. Tatsächlich erkannten Zeugen ihn nicht. Einen Beweisantrag seiner Anwältin, F. unter Gewährung freien Geleits als Entlastungszeugen zu laden, lehnte das LG Dortmund ab: Der Onkel habe gegenüber der türkischen Polizei erklärt, nicht als Zeuge "antreten" zu wollen. Die Verfahrensrüge hatte vor dem BGH Erfolg (Az.: 4 StR 392/20).

Motivation offen

Nach Ansicht der Karlsruher Richter hat es sich das LG zu leicht gemacht. Sie hoben die möglicherweise zentrale Bedeutung der Aussage für die Entscheidung des Indizienverfahrens hervor. Vor diesem Hintergrund sei die Vorinstanz verpflichtet gewesen, sich um die Vernehmung des Zeugen zu bemühen. Auf keinen Fall habe sie sich mit der lapidaren Auskunft der türkischen Polizei begnügen dürfen. Der Zeuge sei nicht auf die Möglichkeit des freien Geleits nach Art. 12 Abs. 1 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens hingewiesen worden. Man habe ihn auch nicht über sein Auskunftsverweigerungsrecht als möglicher Mittäter nach § 55 StPO oder sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO als Verwandter aufgeklärt. Insofern sei der Hintergrund der Weigerung offengeblieben. Die auf Unkenntnis beruhende Angst vor einer Verhaftung bei der Einreise hielt der 4. Strafsenat aber für eine "nicht fernliegende" Ursache der verweigerten Aussage.

BGH, Beschluss vom 16.02.2022 - 4 StR 392/20

Redaktion beck-aktuell; Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 29. April 2022.