Fehlende Arglosigkeit bei Familienstreit

Wenn das Opfer eines tödlichen Schusses mit einem erheblichen Angriff rechnet, liegt keine Heimtücke vor. Der Bundesgerichtshof hob nun ein Mordurteil auf, weil ein Konflikt innerhalb der Familie vorlag. Es sei unzureichend geklärt, ob die Tatopfer mit einem erheblichen Angriff des Angeklagten gerechnet hatten, als dieser eine Waffe aus seinem Hosenbund zog.

Vermeintliche "Familienintrige"

Eine Ehefrau trennt sich von ihrem Ehemann. Dieser war davon überzeugt, dass sie den gesamten Familienkreis gegen ihn aufbringen und ihn vergiften wolle. Hauptgrund für diese Überzeugungen war wohl eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, unter der der Angeklagte nach eigenen Angaben litt. Am Tag der Tat besuchten der Bruder des Angeklagten und seine Frau die frisch getrennte Schwägerin und die gemeinsamen Kinder in ihrer Wohnung. Mit einer geladenen Pistole im Hosenbund tauchte der Angeklagte dort ebenfalls auf und gelangte mit einem Nachschlüssel in die Räumlichkeiten. Die Anwesenheit seines Bruders bestärkte seine Befürchtungen hinsichtlich einer "Familienintrige". Er forderte seinen Bruder auf, mit ihm nach draußen zu gehen. Dieser rechnete mit einem Schlagabtausch. Als die Ehefrau des Bruders dazwischen ging, um die beiden zu trennen, zückte er die Waffe und schoss dem Bruder und dessen Ehefrau in die Brust. Die Frau starb. Das Landgericht Bielefeld verurteilte den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit  mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der Angeklagte legte erfolgreich Revision vor dem Bundesgerichtshof ein. 

Muss man mit tödlichem Angriff rechnen?

Der 4. Strafsenat hob das Urteil auf und entschied, dass das Mordmerkmal der Heimtücke gemäß § 211 Abs. 2 StGB erneut geprüft werden muss. Für die Arglosigkeit sei es nicht entscheidend, ob die Tatopfer einen Angriff gegen ihr Leben erwarteten. Es reiche aus, wenn der Bruder und dessen Ehefrau mit einem erheblichen Angriff gegen ihre körperliche Unversehrtheit rechneten, als der Angeklagte die Waffe zog. Ob dies zutreffe, sei noch unzureichend geklärt. Der BGH verwies den Fall an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurück. Die Karlsruher Richter gaben ihr als Hinweis mit auf den Weg, die Erkrankung des intelligenten Angeklagten unter die Lupe zu nehmen: Sie sei bislang hauptsächlich durch seine Angaben belegt und sein Aussageverhalten mute in Teilen "taktisch" an.

BGH, Beschluss vom 15.02.2022 - 4 StR 491/21

Redaktion beck-aktuell, 8. März 2022.