Erneute Anhörung in Betreuungssache bei neuer Tatsachengrundlage

Zieht das Beschwerdegericht in einer Betreuungssache für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heran, muss der Betroffene erneut persönlich angehört werden. Solange er sich sinnvoll zur Sache äußern kann, darf das Gericht laut Bundesgerichtshof nicht von einer zweiten Anhörung wegen fehlender neuer Erkenntnisse absehen. Vielmehr sei es verpflichtet, sich einen aktuellen Eindruck von dem Betreuten zu verschaffen.

Betreuung trotz Vorsorgevollmacht

Eine heute 91-jährige Demenzkranke konnte ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst erledigen und auch keinen freien Willen mehr bilden. 2013 hatte sie ihren zwei Töchtern jeweils eine privatschriftliche Vorsorgevollmacht erteilt. Sie wohnte in einer Wohnung in Nürnberg und wurde von einer der beiden Töchter, die ebenfalls dort wohnte, versorgt. Ob die Vollmacht der anderen Tochter 2016 widerrufen wurde, ist streitig. Das AG Nürnberg richtete auf Anregung der anderen Tochter eine Berufsbetreuung ein, da ihre Schwester den Umgang mit der Mutter unterband. Das LG Nürnberg-Fürth wies die Beschwerden der Erkrankten und ihrer sie pflegenden Tochter zurück, ohne sie erneut anzuhören. Sie könnten nur mit Hilfe der Betreuerin eine Regelung finden, die eine Kontaktaufnahme und regelmäßige Besuche möglich mache. Bei den vorgelegten Attesten handele es sich um "Gefälligkeitsatteste" eines Arztes. Die Seniorin sei bereits beim AG ausführlich angehört worden. Die Rechtsbeschwerden von Mutter und Tochter beim BGH hatten zunächst Erfolg.

Neue Umstände sind entscheidend

Den obersten Familienrichtern zufolge hätte das LG die Betroffene erneut anhören müssen (§ 278 Abs. 1 FamFG). Dazu sei es auch im Beschwerdeverfahren verpflichtet gewesen gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG. Es habe selbst ausdrücklich darauf abgestellt, dass sich die Erforderlichkeit der Betreuung auch aus während des Beschwerdeverfahrens hinzugetretenen Umständen ergebe. Dabei habe es sich auf einen Bericht der Betreuerin über den nach der Entscheidung des Amtsgerichts stattgefundenen "harmonischen" Besuch der zweiten Tochter bei der Mutter gestützt. Laut BGH war eine erneute Anhörung jedoch nicht aufgrund des Gesundheitszustands der Betroffenen entbehrlich (§ 34 Abs. 2 FamFG). Es sei nicht ausgeschlossen, dass aus ihren Antworten und dem Verhalten Rückschlüsse auf ihren natürlichen Willen gezogen werden können.

Betreuung nicht erforderlich

Die Karlsruher Richter erteilten überdies den Hinweis, dass die Betreuung bei einer vorhandenen Vorsorgevollmacht gar nicht erforderlich sei (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB), soweit die Aufgaben durch den Begünstigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können. Das LG müsse auch der Frage nachgehen, ob die vorgelegten Atteste Belege dafür bieten, dass die Tochter aus eigennützigen Motiven gehandelt habe. Gegen eine Betreuung könnte zudem sprechen, dass ihre Schwester mit Hilfe ihrer Vollmacht selbstständig Informationen über den Gesundheitszustand und den Aufenthaltsort ihrer Mutter erlangen könne. Der BGH verwies die Sache daher an das LG zurück.

BGH, Beschluss vom 06.10.2021 - XII ZB 205/20

Redaktion beck-aktuell, 23. November 2021.