Entschädigung für verzögertes Pilotverfahren

Im Entschädigungsprozess wird die Verfahrensführung nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Dies bestätigte der Bundesgerichtshof. Macht der Entschädigungskläger dabei für bestimmte Zeiträume zu Unrecht immaterielle Nachteile geltend, kann sein Antrag nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden. Der Regelsatz von 1.200 Euro Entschädigung könne aber im Einzelfall erhöht werden.

Gesamtverfahrensdauer von sieben Jahren und elf Monaten

Ein ehemaliger Verantwortlicher ("Konzeptant") eines Finanzunternehmens verlangte vom Land Niedersachsen eine Entschädigung von 11.550 Euro wegen überlanger Dauer eines Schadensersatzprozesses. In dem Ausgangsverfahren aus 2011 hatten ihn Anleger unter anderem wegen Kapitalanlagebetrugs auf Schadensersatz verklagt. Beim Landgericht Göttingen wurde der Prozess als Pilotverfahren geführt. Er wurde vorrangig gefördert und diente als Grundlage für 140 weitere Verfahren. 2013 gab die dortige Kammer ein Gutachten in Auftrag, welches der Sachverständige Ende Mai 2016 vorlegte. Im Oktober 2017 erhob der Ex-Unternehmer erstmals eine Verzögerungsrüge, im Januar 2019 eine zweite. Fast drei Jahre nach Vorlage der Expertise entschied das LG, ein Ergänzungsgutachten einzuholen. Im Oktober 2019 nahmen die Anleger ihre Klage zurück. Daraufhin endete das Ausgangsverfahren.

OLG: Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen

Das OLG Braunschweig gab der Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 1 GVG in Höhe von 6.420 Euro statt. Das LG habe das Verfahren nach Vorlage des ersten Gutachtens bis zur Entscheidung über die Einholung eines Ergänzungsgutachtens nicht ausreichend zügig gefördert. Aufgrund der herausragenden Bedeutung des verzögerten Pilotverfahrens sei der Regelbetrag angemessen zu erhöhen. Die Revision des beklagten Landes beim BGH hatte teilweise Erfolg.

Streitgegenstand und Entscheidungsumfang verbindlich festgelegt 

Dem III. Zivilsenat zufolge hat das OLG dem Kläger zu Unrecht eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 6.420 Euro zugesprochen. Zwar sei es von den Braunschweiger Kollegen richtig gewesen, den gesetzlichen Regelsatz aus § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG wegen des gegen ihn erhobenen Betrugsvorwurfs rufschädigenden Charakters des Ausgangsverfahrens zu erhöhen. Das OLG habe aber dem ehemaligen Finanzmanager unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO mehr zugesprochen, als er beantragt habe, kritisierten die BGH-Richter. Der Unternehmer habe beieiner Verfahrensverzögerung von 77 Monaten für jeden Monat der Verzögerung eine betragsmäßig bestimmte Entschädigung in Höhe von 150 Euro beantragt (insgesamt 11.550 Euro). Damit habe er den Streitgegenstand und den Entscheidungsumfang des Gerichts verbindlich festgelegt. Davon abweichend habe ihm das OLG für die Verzögerung von acht Monaten eine Entschädigung von 6.420 Euro zugesprochen, monatlich rund 800 Euro. Insgesamt reichten die vom OLG festgestellten Umstände aber aus, dass nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Erhöhung des Regelsatzes jedenfalls um die von dem Kläger beantragten 50 Euro für jeden Monat der Verzögerung angemessen sei.

BGH, Urteil vom 15.12.2022 - III ZR 192/21

Redaktion beck-aktuell, 30. Januar 2023.