Krankenkasse verlangt Ersatz der Kosten für Implantatentfernungen
Die Klägerin, eine Krankenkasse, macht geltend, sie habe die Kosten für Revisionsoperationen bei ihr gesetzlich versicherter Patientinnen getragen, denen Silikonbrustimplantate des Herstellers PIP eingesetzt worden waren. Sie nimmt die Beklagte, die von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle im Auftrag von PIP bei dem vom Hersteller durchzuführenden EU-Konformitätsbewertungsverfahren nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG mitwirkte, aus übergegangenem Recht auf Erstattung dieser Kosten in Anspruch.
Beklagte segnete Anbringung des CE-Zeichens auf PIP-Implantaten ab
Die Beklagte führte von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle die Bewertung des Qualitätssicherungssystems und die Prüfung der Auslegungsdokumentation der PIP durch. Die Durchführung dieses Konformitätsbewertungsverfahrens berechtigte PIP als Hersteller von Medizinprodukten, auf richtlinienkonform gefertigten Brustimplantaten ein CE-Kennzeichen anzubringen. Dies ist nach § 6 Abs. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) Voraussetzung dafür, dass Medizinprodukte in Deutschland in den Verkehr gebracht werden dürfen.
Unternehmen PIP hatte Industriesilikon verwendet
Die für PIP zuständige französische Aufsichtsbehörde stellte im März 2010 fest, dass dort nicht das eigentlich vorgesehene Rohmaterial für die Implantate verwendet wurde, sondern nicht für den menschlichen Körper zugelassenes Industriesilikon. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass PIP vor Kontrollen der französischen Behörden und Überprüfungen durch die Beklagte den Herstellungsprozess auf den zertifizierten Ablauf mit der Verwendung des zugelassenen Silikons umgestellt und sämtliche Hinweise auf die Verwendung von Industriesilikon verborgen hatte. PIP meldete im Jahr 2011 Insolvenz an und wurde liquidiert. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) empfahl Anfang 2012 die Entfernung der betroffenen Silikonbrustimplantate als Vorsichtsmaßnahme.
Klägerin will Ersatz für von ihr getragene OP-Kosten
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung von 50.287,15 Euro nebst Zinsen. Nach ihrem Vortrag hat sie in 26 Fällen Operationskosten für bei ihr versicherte Frauen erstattet, denen in den Jahren 2003 bis 2010 von PIP hergestellte Silikonbrustimplantate eingesetzt worden waren und die aufgrund der Empfehlung des BfArM diese Implantate hätten entfernen lassen. Darüber hinaus erstrebt sie die Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz eines weitergehenden Schadens verpflichtet ist, auch soweit bislang noch nicht bekannt gewordene Versicherte betroffen sind.
Klage in ersten beiden Instanzen ohne Erfolg
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Das OLG hatte die Auffassung vertreten, für das Klagebegehren komme weder eine vertrags- noch eine deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage in Betracht. Scheide danach eine Haftung der Beklagten bereits aus Rechtsgründen von vorneherein aus, sei es unerheblich, ob ihr im Zusammenhang mit der Überprüfung und Zertifizierung des Qualitätssicherungssystems und der Auslegungsdokumentation Pflichtverletzungen vorgeworfen werden könnten. Denn etwaige Pflichten hätten jedenfalls nicht gegenüber den Versicherten der Klägerin bestanden.
Auch BGH verneinte 2017 mangels Pflichtverletzung Verantwortung der Beklagten
Der BGH hat das angefochtene Urteil jetzt aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. In einem früherem Urteil vom 22.06.2017 (NJW 2017, 2617) hatte der VII. Zivilsenat es auf der Grundlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof und dessen daraufhin ergangenen Urteils vom 16.02.2017 (NJW 2017, 1161) dahinstehen lassen, ob eine vertragliche oder deliktische Haftung der Benannten Stelle gegenüber Patientinnen, denen Implantate von PIP eingesetzt wurden, überhaupt in Betracht kommt. Im damaligen Fall schied eine Verantwortung der Beklagten nach den revisionsrechtlich maßgeblichen Feststellungen jedenfalls mangels Pflichtverletzung aus.
BGH: OLG hat Möglichkeit deliktischer Haftung zu Unrecht verneint
In dem aktuell entschiedenen Fall habe das OLG hingegen keine Feststellungen zu einer Pflichtverletzung der Beklagten getroffen, sondern deren Haftung bereits aus Rechtsgründen abgelehnt, so der BGH weiter. Die Frage der rechtlichen Voraussetzungen für eine Haftung der Benannten Stelle habe hier deshalb einer Entscheidung bedurft. Der VII. Zivilsenat hat diese Frage nunmehr dahin entschieden, dass das Berufungsgericht jedenfalls die Möglichkeit einer deliktischen Haftung zu Unrecht schon aus Rechtsgründen verneint hat.
Keine Haftung der Beklagten aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter
Im Ergebnis mit Recht habe das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass eine Haftung der Beklagten nach den Grundsätzen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ausscheidet, weil die rechtlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des zwischen PIP und der Beklagten geschlossenen Zertifizierungsvertrages nicht vorliegen. Der BGH hält es bereits für fraglich, ob die hierfür notwendige Leistungs- beziehungsweise Einwirkungsnähe der Versicherten der Klägerin mit den Leistungen dieses Vertrages gegeben ist.
Schutz künftiger Patienten war nicht Vertragszweck aus Sicht von PIP
Jedenfalls liege kein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers PIP an der Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des Vertrages vor. Der Zweck des Zertifizierungsvertrages mit der Beklagten habe aus der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Sicht von PIP darin bestanden, die gesetzlich notwendigen Voraussetzungen für den Vertrieb der Silikonbrustimplantate zu schaffen. Hierzu habe es der Durchführung des EU-Konformitätsbewertungsverfahrens unter Einschaltung einer Benannten Stelle bedurft. Selbst wenn unterstellt werden kann, dass der Hersteller eines Medizinproduktes in der Regel ein allgemeines Interesse daran hat, dass durch seine Produkte niemand zu Schaden kommt, führe diese generelle Erwägung hier nicht dazu, dass aus der Sicht von PIP Vertragsweck des Zertifizierungsvertrages mit der Beklagten der Schutz künftiger Patientinnen vor Gesundheitsgefahren der von PIP hergestellten Medizinprodukte war. Dem EU-Konformitätsbewertungsverfahren komme aus Herstellersicht nicht die Aufgabe zu, ihn im Verhältnis zu Patienten abzusichern oder seine Rückgriffsmöglichkeiten gegenüber der Benannten Stelle bei Fehlerhaftigkeit von Produkten zu erweitern. Vielmehr diene das Verfahren der Eröffnung des Marktzugangs für den Hersteller ähnlich einem behördlichen Zulassungsverfahren.
Patientinnen entschieden sich nicht aufgrund Zertifizierungsleistung für PIP-Implantat
Zudem sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Versicherten der Klägerin ihre Entscheidung zum Einsetzen der Implantate aufgrund der Zertifizierungsleistung der Beklagten getroffen hätten, fährt der BGH fort. Die Tätigkeit der Beklagten im Rahmen des EU-Konformitätsbewertungsverfahrens sei nach außen nicht in Erscheinung getreten und sei insbesondere auch für die Patientinnen nicht erkennbar gewesen. Bei dem auf den Implantaten vom Hersteller selbst angebrachten CE-Kennzeichen nach § 6 Abs. 1 MPG handele es sich gerade nicht um ein besonderes Qualitätssiegel, dem die Patientinnen ein gesteigertes Vertrauen entgegensetzen konnten. Vielmehr sei die Zertifizierung für alle Medizinprodukte der Klasse III eine notwendige rechtliche Voraussetzung dafür gewesen, dass diese überhaupt in den Verkehr gebracht werden durften.
Haftung Benannter Stelle wegen Verstoßes gegen Schutzgesetz nicht ausgeschlossen
Allerdings kann laut BGH eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Bei der im Medizinproduktegesetz getroffenen Regelung zum EU-Konformitätsbewertungsverfahren und den Rechten und Pflichten der Benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III in § 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 37 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über Medizinprodukte (MPV) und Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG handelt es sich um ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB. Die hier maßgebliche Regelung zum EU-Konformitätsbewertungsverfahren solle gerade dem Schutz der Gesundheit der Endempfänger der Medizinprodukte dienen, der Individualschutz der einzelnen Patienten stehe im Vordergrund. Die Gewährleistung dieses Schutzes obliege dabei nicht allein dem Hersteller selbst, sondern auch der Benannten Stelle. Ungeachtet ihrer Beauftragung durch den Hersteller habe die Benannte Stelle unter Berücksichtigung ihrer in der Richtlinie 93/42/EWG festgeschriebenen Rechte und Pflichten eine von ihrem Auftraggeber unabhängige Stellung und diene mit ihrer Prüfungstätigkeit nicht nur dem Hersteller, sondern gerade auch den Endempfängern der Medizinprodukte.
Deliktische Haftung Benannter Stelle angesichts möglicher Gesundheitsgefahren auch sinnvoll
Eine solche deliktische Haftung der Benannten Stelle ist nach Ansicht des BGH auch sinnvoll und im Licht des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar. Die Ablehnung einer deliktischen Haftung der Benannten Stelle bei schuldhaften Pflichtverletzungen würde den Sinn und Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens, das in der europäischen Konzeption des Medizinprodukterechts an die Stelle eines behördlichen Zulassungsverfahrens tritt, infrage stellen und seine Bedeutung entwerten. Angesichts der mit der Verwendung fehlerhafter Medizinprodukte zusammenhängenden Gesundheitsgefahren sei die Schaffung eines individuellen Schadenersatzanspruchs gegen die Benannte Stelle auch aus diesem Grund sinnvoll. Zur Verhinderung von dem Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens zuwiderlaufenden Anreizen bestehe die Notwendigkeit, dass die Benannte Stelle nicht nur dem Risiko einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Hersteller im Fall einer zu strengen Prüfung ausgesetzt ist, sondern ebenfalls dem Risiko einer deliktischen Inanspruchnahme durch Dritte bei einer nachlässigen Prüfung.
OLG muss Feststellungen zu Pflichtverletzung der Benannten Stelle treffen
Das Berufungsgericht hat laut BGH im weiteren Prozessverlauf nun Feststellungen dazu zu treffen, ob die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten im Übrigen vorliegen, ob insbesondere also eine relevante Pflichtverletzung bei der Vornahme ihrer Zertifizierungsleistungen zu bejahen ist.